NFC zu H-K-03

FAMILIE UND »KINDERFACHABTEILUNG«

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Ingeborg Wahle sitzt in einem ausladenden Kinderwagen mit großen Speichenrädern und geschwungenem Lenker. Sie streckt die rechte Hand aus dem Wagen und blickt Richtung Kamera. Im Hintergrund ist Wiese, eine Mauer und ein dahinterliegendes mehrstöckiges Gebäude sichtbar.

Ingeborg Wahle im Kinderwagen, etwa 1940.

Privatbesitz Renate Beier.

Ingeborg Wahle stammte aus Göttingen. Sie war das zweite Kind von Elfriede, geborene Fendt, und Willi Wahle. Zwei Jahre nach ihr wurde ihre Schwester Renate geboren. Ingeborg hatte einen schweren Start ins Leben, ihre Entwicklung blieb verzögert. Sie kam nach Lüneburg. Nachdem ihr Vater sie ein letztes Mal besuchte, weil er einen Kriegseinsatz hatte, wurde sie am nächsten Tag ermordet.

HEINZ SCHÄFER (1937 – 1942)

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Zwei Jungen stehen in einem Garten. Der Ältere trägt den Jüngeren. Der Ältere blickt freundlich zu seinem Bruder. Dieser guckt in die Kamera.
Es ist ein schwarz-weißes Foto. Die Familie steht auf einem Feld mit Büschen im Hintergrund. In einer Karre mit hohem Griff sitzt Heinz Schäfer mit einem runden Hut. Neben ihm sitzen zwei Mädchen in hellen Kleidern. Daneben stehen zwei Jungen in kurzen Hosen mit Pollunder. Hinter dem Wagen stehen ein großer mittelalter Mann, eine ältere Frau in Blusenkleid und eine jüngere Frau mit dunklem Rock und gemusterter Jacke.
Helga trägt ein kariertes Kleid mit großem weißem Kragen. Sie steht etwas unsicher und wird an beiden Armen von Ilse gehalten. Ilse steht hinter ihr und trägt eine helle, gerüschte Bluse. Helmut hält auch einen Arm von Helga fest. Er ist etwas größer als sie und trägt einen kurzen Hosenanzug. Alle blicken zur Kamera.

Helga Volkmer mit ihrem Bruder Helmut und der Kindergärtnerin Ilse, etwa 1935.

Privatbesitz Marlene Volkmer.

Helga Volkmers Eltern mussten in der Landwirtschaft schwer arbeiten, um neben der Bewirtschaftung des eigenen Hofes auch die Pacht abzuarbeiten. Ihre Mutter war darauf angewiesen, dass die Geschwister, Nachbarskinder und hin und wieder eine Kindergärtnerin Helga beaufsichtigten. Sie wurde in einem Wagen auf den Hof geschoben und schaute den anderen Kindern beim Spielen zu. Manchmal saß sie auch auf einem Hocker.

Die Eltern blieben oft im Unklaren, nur wenige hatten eine Ahnung vom Geschehen in einer »Kinderfachabteilung«. Nur im Ausnahmefall nahmen sie den Tod billigend in Kauf. Die meisten standen der Aufnahme in einer »Kinderfachabteilung« tatsächlich eher skeptisch bis ablehnend gegenüber, erwarteten von der Zwangsbehandlung aber, dass sie zumindest zu einer Besserung führen würde.

Der Vordruck wurde mit der Schreibmaschine ausgefüllt. Das Papier ist gelocht. Oben links befindet sich eine Anmerkung. Sie ist mit blauer Tinte geschrieben. Unten steht etwas mit Bleistift geschrieben. Beide Anmerkungen sind nur teilweise lesbar.

Meldung von Herbert Wiepel, 4.5.1942.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 428.

Eine Ausnahme bilden die Eltern von Herbert Wiepel. Sie gehören zu den wenigen, die dem Arzt Willi Baumert andeuteten, dass sie mit einer »Erlösung« ihres Sohnes in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« einverstanden seien. Herbert wurde wenige Tage nach seiner Geburt von der Hebamme gemeldet. Fünf Monate später ordnete der »Reichsausschuss« die Einweisung an. Am 7. Oktober 1942 wurde Herbert in die »Kinderfachabteilung« aufgenommen. Zehn Tage später wurde er ermordet.

Ab 1944 weigerten sich viele Eltern, ihre Kinder an die »Kinderfachabteilungen« abzugeben. Daraufhin wurden §§ 14, 15, 40 und 55 des Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Juni 1931 weit ausgelegt und Kinder auch gegen den Willen ihrer Eltern in die Heil- und Pflegeanstalten zwangseingewiesen. Gegen die Anordnung konnte binnen zwei Wochen beim Regierungspräsidenten Hannover Beschwerde eingelegt werden. Diese war jedoch unwirksam, denn es galt:

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Vor einem Haus ist ein großer Kinderwagen. Fritz Wehde schaut mit interessiertem Blick zur Kamera. Tante Wilma steht hinter dem Wagen und hat eine Hand bei Fritz. Sie trägt eine kurzärmelige Bluse mit Rock. Sie blickt in die Kamera.

Fritz Wehde im Kinderwagen mit seiner Tante Wilma, etwa 1940.

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Fritz sitzt als Baby auf einer hellen Decke auf einer Wiese. Er wird im Sitzen gehalten. Seine Großmutter hält ihn. Er guckt erstaunt zum linken Bildrand. Dort ist eine Hand im Bild. Die Hand hält einen Teddybären Richtung Fritz. Die Großmutter trägt ein Kopftuch, ein Arbeitshemd und eine Schürze. Fritz trägt einen hellen Pulli und einen Strampelanzug.

Fritz mit seiner Großmutter und dem Teddy, etwa 1941.

Privatbesitz Uta Wehde.

Die Wehdes waren Arbeiter und Sozialdemokraten. Sie waren auch nach der Machtergreifung gegen die Nationalsozialisten. Fritz Wehde lebte bis August 1944 bei seiner Familie. Er wurde liebevoll umsorgt. Es gibt Fotos, die ihn mit seiner Großmutter und seiner Tante Wilma zeigen. Seine Cousine Helga schenkte ihm ihren Teddy. Weil sich seine Eltern weigerten, ihn einzuweisen, wurde er mit polizeilicher Verfügung zwangseingewiesen.

Im Januar 1944 besuchte Berta Köhler ihre 15-jährigen Söhne Herbert und Willi. Sie fand sie nackt im Bett bei eisiger Raumtemperatur. Die Kinder mussten ab nachmittags im Bett bleiben und aßen dort auch ihr Abendessen. Als Kinderpflegerin erkannte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie schrieb Beschwerdebriefe und drohte, den Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti einzuschalten. Danach erhielt sie keine Reiseerlaubnis mehr und durfte ihre Söhne nicht mehr besuchen.

Der Brief ist auf liniertem Schulpapier geschrieben. Das Papier ist vergilbt. Die Handschrift ist sehr gleichmäßig und ordentlich. Der Brief ist eineinhalb Seiten lang. Die Antwort wurde auf der der zweiten Briefseite mit schwarzem Füller ebenfalls handschriftlich verfasst. Die Schrift ist deutlich schlechter lesbar und auf den freien Platz unter dem Brief auf das Papier geschrieben.

Brief an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, 7.1.1944. (Vorder- und Rückseite) mit Rückantwort, 11.1.1944.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 290.

Die Besucherkarte ist eine rote Karteikarte mit einem gedruckten Formular und Tabelle für die Eintragungen. Die Eintragungen sind handschriftlich vorgenommen.

Unvollständige Besucherkarte von Ingeborg Wahle.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 443.

Im Vergleich zu anderen Kindern wurde Ingeborg Wahle häufig besucht. Als Willi Wahle in einer Lüneburger Kaserne stationiert war, nutzte er jede Gelegenheit, seine Tochter zu sehen. Auch Ingeborgs Mutter konnte oft nach Lüneburg kommen, weil der Großvater als Schaffner Freikarten bekam. Viele dieser Besuche wurden mit Bleistift in die Krankengeschichte eingetragen. Als Willi zum Fronteinsatz musste und auch die Freifahrten kriegsbedingt nicht mehr genehmigt wurden, wurde Ingeborg im Februar 1945 ermordet.

Inge Roxin stammte aus Lüneburg. Deshalb konnte sie mehrmals pro Woche von ihrer älteren Schwester Ruth besucht werden. Bei einem dieser Besuche entstand dieses Foto. Es muss von einer Pflegekraft aufgenommen und später ein Abzug zur Erinnerung mitgegeben worden sein.

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Es ist verwackelt. Ruth sitzt und hat Inge auf dem Schoß. Inge scheint sich zur Seite zu bewegen oder zur Seite zu rutschen. Ruth guckt zur Kamera. Beide sitzen auf einer Decke auf einer Wiese.

Ruth mit ihrer Schwester Inge Roxin, »Kinderfachabteilung« Lüneburg, 1943.

Privatbesitz Sigrid Roxin | Käthe Wandel.

Familien, die nicht zu Besuch kommen konnten, sorgten sich nicht weniger. Sie schrieben ihren Kindern und Jugendlichen, auch wenn diese nicht lesen konnten. Die Krankenakten sind gefüllt mit Briefen und Postkarten der Eltern und Großeltern an ihre Kinder. Auch Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung wurden geschickt.

Es ist ein gelbliches grobes Papier. Die Postkarte ist mit gleichmäßiger Handschrift geschrieben. Die Postkarte ist gelocht.

Postkarte von Ella Schäfer an ihren Sohn Heinz vom 13.11.1941.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 373.

Heinz Schäfers Mutter tat sich sehr schwer mit der Trennung von ihrem Kind. Sie hatte große Sehnsucht nach ihm und schrieb ihm und den Pflegenden schon kurz nach seiner Aufnahme eine Postkarte. Die Familie hoffte, dass er in Lüneburg das Laufen lernen und gesund werden würde.

Der Vater hatte keine Mühen gescheut, während seines Fronteinsatzes eine kindgerechte Postkarte zu organisieren. Als die Neujahrsgrüße für seinen Sohn Lars Sundmäker in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ankamen, lebte dieser schon nicht mehr. Lars war am 3. Januar 1945 ermordet worden.

Feldpostkarte von Carl Sundmäker (Nr. 57948) an seinen Sohn Lars Sundmäker vom 28.12.1944, Vorder- und Rückseite.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83. Nr. 405.