NFC zu H-B-08
EDDA PURWIN (1940 – 1942)


Einweisungsanordnung des »Reichsausschusses« vom 18.9.1941.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 3027.
Edda Purwin wurde am 1. Juli 1940 in Lüneburg geboren. Ihre Mutter war die Hausgehilfin Anneliese Purwin (geb. 1918). Ihr Vater war der Maschinist Albert Gerstenberg (geb. 1910). Bei Eddas Geburt war er als Soldat im Kriegseinsatz. Eddas Eltern waren unverheiratet. Noch am Tag ihrer Geburt wurde Edda in das Kinderkrankenhaus in der Barckhausenstraße 6 gebracht und wegen ihrer Behinderung an das Gesundheitsamt gemeldet. Von dort ging die Meldung an den »Reichsausschuss«, der am 18. September 1941 Eddas Einweisung in die »Kinderfachabteilung Langenhorn« veranlasste. Dort wurde sie am 5. oder 6. Oktober 1941 aufgenommen. Ihre Mutter wurde ein halbes Jahr später erneut schwanger, diesmal von Unteroffizier Johann Seebeck (geb. 1914). Einen Monat bevor ihr Bruder Hans Peter geboren wurde, starb Edda. Sie wurde am 18. Januar 1942 in Hamburg-Langenhorn ermordet. Zwei Monate nach ihrem Tod starb auch Johann Seebeck. Er fiel in der Sowjetunion. Nur einen Monat später verlobte sich Anneliese Purwin mit dem Obergefreiten und Fabrikarbeiter Josef Pfeiffer und heiratete ihn am 4. Juli 1942.
EDDA PURWIN
Edda Purwin ist im Jahr 1940
in Lüneburg geboren.
Ihr Vater ist Soldat und
ihre Mutter ist Hausmädchen.
Edda hat eine Behinderung.
Das ist am Tag ihrer Geburt klar.
Sie kommt in das Kinder-Krankenhaus
in Lüneburg.
Ein Arzt untersucht Edda und sagt:
Er muss Edda melden,
weil sie eine Behinderung hat.
Der Arzt meldet Edda beim Reichsausschuss.
Der Reichsausschuss entscheidet:
Edda muss in die Kinder-Fachabteilung
nach Hamburg-Langenhorn.
Dort wird sie ermordet.
Das ist im Januar 1942.
In dem Brief vom Reichsausschuss steht:
Edda muss in die Kinder-Fachabteilung
nach Hamburg-Langenhorn.
Der Brief ist aus dem Jahr 1940.
4 Wochen nach Eddas Tod kommt
ihr Halb-Bruder zur Welt.
Der Vater von Eddas Halbbruder stirbt
4 Wochen später.
Er ist Soldat in Russland.
Eddas Mutter lernt einen neuen Mann kennen.
Sie heiratet ihn im Sommer 1942.
Als Friedrich Daps in der Lüneburger »Kinderfachabteilung« ankam, hatte er schon viel hinter sich. Aus der Pestalozzistiftung in Großburgwedel kam er nach wenigen Tagen in die Anstalt Hannover-Langenhagen, von dort in die Rotenburger Anstalten. Diese Aufnahme ist das einzige erhaltene Bild von ihm. Das Foto entstand vermutlich in den Rotenburger Anstalten. Friedrich Daps stammte aus Isernhagen, sein Vater war Friedhofsgärtner. Es gab die Annahme, er sei taub und stumm.
Das ist ein Foto von Friedrich Daps.
Es ist das einzige Foto von ihm.
Sein Vater ist Gärtner.
Friedrich Daps kommt aus Isernhagen.
Friedrich Daps kommt
in die Kinder-Fachabteilung nach Lüneburg.
Die Ärzte glauben:
Friedrich Daps ist taub und stumm.
Friedrich Daps ist vorher schon
in anderen Anstalten und Heimen gewesen:
• Pestalozzistiftung.
• Hannover Langenhagen.
• Rotenburger Anstalten.

Friedrich Daps, 1938.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 218.

Es gibt nur diese wenigen Fotos von Friedrich Daps‘ Familie.
Dora und Gustav Daps (Großeltern), Isernhagen, vor 1914.

Die Brüder Fritz, Ernst und Willi Daps (Vater) (von links nach rechts), etwa 1930.

Ernst Daps Junior (Cousin), vor 1956.
ArEGL 126.
Das sind Fotos von der Familie von Friedrich Daps.
Es gibt nur wenige Fotos von der Familie.
Die meisten Kinder waren Teil der Familien und wurden von ihren Eltern geliebt. Sie waren immer überall dabei. Die Zwangseinweisung über den »Reichsausschuss« wurde von den Eltern oft hinausgezögert und die Kinder wurden nur widerwillig abgegeben. Nach der Ermordung ihrer Kinder verweigerten die Eltern die Bezahlung der »Pflege«, die ihnen – je nach wirtschaftlicher Lage – in Rechnung gestellt wurde.
Die meisten Eltern lieben ihre Kinder.
Die Kinder gehören zur Familie.
Manche Kinder müssen
in die Kinder-Fachabteilung.
Die Eltern wollen ihr Kind nicht abgeben.
Darum beeilen sich die Eltern nicht.
Sie warten so lange es geht,
bis sie ihr Kind abgeben.
Die Kinder werden
in der Kinder-Fachabteilung ermordet.
Trotzdem sollen die Eltern für die Pflege
in der Kinder-Fachabteilung bezahlen.
Aber viele Eltern sagen:
Nein. Das machen wir nicht.
Mein Kind ist doch tot.

Auf vier Fotos aus einem Album ist Günter Schulze inmitten seiner Familie zu sehen. Er war ein fröhliches Kind und immer dabei, 1938.
Privatbesitz Ursula (Ulla) Heins | ArEGL 86.

Seite aus einem Familien-Album, 1938 – 1941.
Foto der Geschwister Ulla und Günter Schulze beim Schlittenfahren, 1940.
Privatbesitz Ursula (Ulla) Heins | ArEGL 87.
Das sind Fotos
von Günter Schulze und seiner Familie.
Günter ist immer dabei.
Er ist ein fröhliches Kind.
Sieben Monate lang verweigerte Günters Mutter die Zahlung der Pflegekosten. Erst nach Zahlungseingang wurden ihr im Oktober 1945 die Kleidungsstücke ihres Sohnes ausgehändigt – über ein Jahr nach Günters Tod. Dafür musste sie nach Lüneburg reisen.
Günter Schulze kommt
in die Kinder-Fachabteilung nach Lüneburg.
Er wird dort ermordet.
Seine Mutter soll dafür bezahlen.
Aber die Mutter bezahlt nicht.
Sie sagt:
Durch euch ist mein Kind tot.
Dafür bezahle ich nicht.
Darum bekommt die Mutter
Günters Sachen nicht zurück.
Nach 7 Monaten bezahlt die Mutter doch
für die Kinder-Fachabteilung.
Jetzt bekommt sie die Kleidung
von Günter zurück.
Die Mutter muss nach Lüneburg reisen,
um die Sachen zu holen.
Das steht auf dieser Postkarte
aus dem Jahr 1945.
Da ist Günter schon ein Jahr tot.


Postkarte des Landkreises Hannover an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 1.3.1945.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 387.


Christa Jordan und ihre Geschwister Margret und Friedrich im Schnee, Winter 1942.
ArEGL 175-2-6.
Zwei Bilder im Schnee, entstanden im Winter 1942 auf dem Hof der Eltern in Knesebeck. Nur wenige Wochen später wurde Christa Jordan in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen und nach drei Monaten Aufenthalt ermordet. Ihr Vater Fritz Jordan hatte vergeblich versucht, sie in die Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld einweisen zu lassen. Ihre Aufnahme in Lüneburg hatten die Eltern ausdrücklich abgelehnt.
Das sind Fotos von Christa Jordan und
ihren Geschwistern im Schnee.
Die Fotos sind aus dem Jahr 1942.
Die Fotos sind in Knesebeck gemacht
auf dem Hof von Christas Eltern.
Kurz danach passiert das:
Christa soll in die Kinder-Fachabteilung
nach Bethel.
Dort gibt es ein Heim
für Kinder mit Behinderungen.
Die Eltern wollen das nicht.
Aber man zwingt die Eltern.
Sie müssen Christa
in die Anstalt nach Lüneburg bringen.
Christa kommt in die Kinder-Fachabteilung,
gegen den Willen ihrer Eltern.
Christa ist 3 Monate.
Dann wird sie ermordet.
Fritz Jordan besuchte seine Tochter in Lüneburg, als es ihr gesundheitlich noch nicht schlecht ging. Christas Mutter Anna nahm den Weg nach Lüneburg im Mai 1942 zweimal auf sich. Nach dem ersten Besuch erholte sich Christa offenbar. Da jedoch unverändert »Bildungsunfähigkeit« bescheinigt wurde, kam sie weiterhin für die Ermordung infrage.
Fritz Jordan ist der Vater von Christa.
Er besucht Christa in der Anstalt in Lüneburg.
Da geht es ihr noch gut.
Anna Jordan ist die Mutter von Christa.
Sie besucht Christa im Mai 1942.
Das ist kurz vor Christas Tod.
Beim ersten Besuch geht es Christa schlecht.
Beim zweiten Besuch geht es Christa besser.
Aber Christa bekommt eine schlechte Beurteilung von den Ärzten.
Die Ärzte sagen:
Christa kann nicht lernen.
Darum wird Christa ermordet.
Auf der Sterbe-Urkunde steht:
Christa ist an einer Lungen-Entzündung gestorben.
Aber das stimmt nicht.

Sterbeurkunde von Christa Jordan, 2.6.1942.
ArEGL 175-2.

Edelweiß-Anhänger, um 1941.

Christian Meins, um 1940.
ArEGL 169.
Als im Sommer 1943 viele Kinder starben, behaupteten Willi Baumert und Max Bräuner, das seien alles Bombengeschädigte aus Hamburg. Tatsächlich gab es nur ein einziges Kind, das in diesem Zusammenhang zufällig in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« aufgenommen wurde: Christian Meins. Dieser Anhänger in Form einer Edelweiß-Blüte gehörte zu Christians Trachtenjacke. Er trug ihn immer bei sich.
Im Sommer 1943 sterben viele Kinder
in der Anstalt in Lüneburg.
Die Ärzte Willi Baumert und Max Bräuner sagen:
Die toten Kinder kommen aus Hamburg.
Die Kinder sind von Bomben verletzt worden.
Aber das stimmt nicht.
Die Kinder werden ermordet.
Nur ein Kind kommt verletzt aus Hamburg. Das Kind ist Christian Meins.
Das ist ein Ketten-Anhänger von Christian Meins.
Der Ketten-Anhänger hat die Form
von einer Blume.
Die Blume heißt: Edelweiß.
Der Ketten-Anhänger gehört zu einer Jacke.
Christian hat den Ketten-Anhänger immer dabei.
CHRISTIAN MEINS (1939 – 1943)


Postkarte von Christian Meins, etwa 1942, Vorder- und Rückseite.
Privatbesitz Heidi Frahm.
Christian Meins war das erste Kind von Gretel und Hermann Meins. Bei seiner Geburt war die Nabelschnur zweimal um seinen Hals gewickelt und behinderte die Sauerstoffversorgung des Gehirns. Von den Folgen erholte er sich nicht und blieb entwicklungsverzögert. Die Eltern waren sehr glücklich über ihr Kind, er war der »Prinz«. Als Familie Meins ausgebombt wurde und Hamburg verlassen musste, hatten die Eltern nur noch ihren Sohn und ein paar wenige Sachen. Dazu gehörte auch diese Postkarte, auf der der Vater als Trost notiert hatte:
CHRISTIAN MEINS
Christian Meins lebt von 1939 bis 1943.
Christian hat eine geistige Behinderung.
Er entwickelt sich nur langsam.
Er hat bei seiner Geburt
zu wenig Sauerstoff bekommen.
Seine Eltern lieben Christian sehr.
Im Zweiten Weltkrieg wird die Wohnung
von der Familie Meins zerstört.
Eine Bombe fällt auf das Haus.
Die Familie verliert fast alles.
Christian und seine Eltern müssen
Hamburg verlassen.
Die Eltern haben nur noch wenige Sachen.
Die Eltern sind sehr traurig.
Der Vater schreibt auf eine Karte:
»Wenn du weiter nichts hast, aber wenigstens dein Söhnchen.«
Wir haben nichts mehr.
Aber wir haben noch unseren Sohn.
Das ist das Wichtigste.
HEINRICH HEROLD (1934 – 1942)

Heinrich Herold auf dem Arm seiner Großmutter, Duingen 1934.
Privatbesitz Holger Sievers.

Heinrich, seine Mutter Auguste und seine Schwester Irmgard Herold, Duingen, Ostern 1939.
Privatbesitz Holger Sievers.
Heinrich Herold wurde in Duingen geboren. Er hatte eine ältere Schwester. Der Vater war Inhaber eines Technikgeschäftes und betrieb eine Zapfsäule für Benzin. Infolge eines tragischen Arbeitsunfalls, bei dem Heinrichs Vater starb, wurde er zwei Wochen nach seiner Geburt Halbwaise und seine Mutter alleinerziehend. Heinrichs Taufe und die Beerdigung seines Vaters fielen zusammen. Sieben Jahre später wurde Heinrich Herold 1941 in die Lüneburger »Kinderfachabteilung« zwangseingewiesen, da seine arbeitende Mutter die Pflege und Erziehung nicht mehr leisten könne. Er wurde von Haus 23 nach Haus 25 verlegt. Dort wurde er ermordet und seine Leiche wurde geöffnet. Sein Gehirn wurde an das UKE abgegeben. Es wurden sehr viele Schnitt-Präparate angefertigt, um das »Hurler-Syndrom« erforschen zu können. Die Gehirnüberreste wurden über 70 Jahre später im Archiv des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) entdeckt und 2012 Heinrich Herold zugeordnet. 208 Teile seines Gehirns wurden 2013 auf dem ehemaligen Anstaltsfriedhof in Lüneburg bestattet.
HEINRICH HEROLD
Heinrich Herold wird in Duingen geboren.
Sein Vater stirbt 2 Wochen nach Heinrichs Geburt.
Die Mutter ist nun allein.
Heinrichs Taufe und die Beerdigung vom Vater sind am gleichen Tag.
Die Mutter zieht Heinrich allein groß.
Heinrich hat noch eine ältere Schwester.
Die Mutter arbeitet.
Im Jahr 1941 kommt Heinrich
in die Kinder-Fachabteilung nach Lüneburg.
Heinrich wird gezwungen.
Erst ist Heinrich in Haus 23.
Dann zieht Heinrich in Haus 25.
Dort wird Heinrich ermordet.
Die Ärzte schneiden Heinrichs Leiche auf.
Sie untersuchen sein Gehirn.
Sie schneiden sein Gehirn in 208 Teile.
70 Jahre später findet man die Teile vom Gehirn im Krankenhaus in Hamburg.
Sie liegen in einem Archiv.
Man findet heraus:
Die Teile vom Gehirn gehören zu Heinrich Herold.
Im Jahr 2013 beerdigt man die Teile
von Heinrichs Gehirn.
Es gibt Fotos von Heinrich Herold.
Auf diesem Foto ist er Baby.
Seine Oma hat ihn auf dem Arm.
Das Foto ist aus dem Jahr 1934.
Auf dem anderen Foto sind
Heinrich, seine Mutter und seine Schwester.
Das Foto ist aus dem Jahr 1939.
»Der kleine Heini, der war so ruhig, aber den haben sie weggegeben.«
Interview mit Ilse Sievers vom 2.11.2013.
ArEGL.
Die Familie sagt:
Heinrich ist ein liebes Kind.
Wir verstehen nicht, dass er weg muss.
LUBA GORBATSCHUK (1943 – 1944)

Auszug aus der Krankengeschichte von Luba Gorbatschuk.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 67.
Luba Gorbatschuk wurde am 9. Mai 1943 im Ostarbeiterlager Tannenkoppel in Hamburg-Langenhorn geboren. Sie war die Tochter von Tatjana Gorbatschuk, die in der Hanseatisches Kettenwerk G.m.b.H. Zwangsarbeit leistete. Die Mutter war »[…] seit einigen Wochen entwichen«. Sie hatte ihre kleine Tochter im
Lager alleine zurückgelassen. Da sich im Lager niemand um Luba kümmern wollte und konnte, wurde sie von der Lagerleitung an den »Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« in Berlin gemeldet und daraufhin am 27. Oktober 1944 in die »Kinderfachabteilung« Lüneburg aufgenommen.
Ein Aufseher des Zwangsarbeiterlagers und eine Zwangsarbeiterin brachten sie in die Anstalt.
Luba wurde in Haus 25 aufgenommen. Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigte sie zur Überraschung von Max Bräuner keinerlei Auffälligkeiten, außer dem Zahnen. Ansonsten stellte Bräuner fest:
»Greift nach vorgehaltenen Gegenständen. Lächelt bei Anrede. Ist aber auch leicht weinerlich. Nimmt gut Nahrung zu sich.«
Acht Wochen später starb Luba Gorbatschuk am 21. Dezember 1944 im Alter von eineinhalb Jahren. Die offizielle Todesursache lautete »Marasmus bei Idiotie«. Sie verhungerte. Sie wurde auf dem Gräberfeld für ausländische Patient*innen bestattet.
LUBA GORBATSCHUK
Luba Gorbatschuk wird in einem Lager
in Hamburg geboren.
Es ist ein Lager für Zwangs-Arbeiter.
Ihre Mutter ist Zwangs-Arbeiterin
in einer Ketten-Fabrik.
Ihre Mutter läuft weg aus einem Arbeits-Lager.
Keiner kümmert sich um Luba.
Die Lager-Leitung entscheidet:
Die Mutter ist weg.
Dann muss das Kind auch weg.
Die Lager-Leitung schreibt an den Reichsausschuss.
Luba kommt in die Kinder-Fachabteilung.
Eine Zwangs-Arbeiterin und ein Wärter bringen sie nach Lüneburg.
Sie kommt in Haus 25.
Max Bräuner untersucht Luba.
Er stellt fest:
Luba ist gesund.
Sie hat keine Behinderung.
Luba ist fit.
Sie trinkt gut.
Sie isst gut.
Sie ist 1,5 Jahr alt und bekommt Zähne.
Das ist alles.
7 Wochen später ist das anders.
Denn man gibt ihr zu wenig Essen.
Max Bräuner stellt fest:
Luba hat keine Kraft.
Sie ist schwach.
Sie stirbt am 21. Dezember 1944.
Sie ist verhungert.
Hier ist ein Teil von der Kranken-Geschichte von Luba.

Laufgewichts-Tischwaage mit Waagschale, um 1910.
ArEGL 143.
Ab 1944 verhungerten viele Kinder und Jugendliche oder starben an Infektionskrankheiten, die durch Mangelernährung und fehlende Sauberkeit ausgelöst worden waren. Das Hungersterben endete erst im Sommer 1946, weil sich auch nach dem Krieg niemand um eine bessere Verpflegung und Ausstattung bemühte.
In den Jahre 1944 und 1945 geht es den Menschen
in Deutschland sehr schlecht.
Das ist kurz vor dem Ende vom Zweiten Weltkrieg.
Auch den Kindern in der Kinder-Fachabteilung
in Lüneburg geht es sehr schlecht.
Alle haben Hunger.
Und keiner kümmert sich um sie.
Viele Kinder sterben.
Sie verhungern.
Und sie sterben an Krankheiten,
weil sie eine schlechte Behandlung bekommen.
Das geht bis zum Sommer 1946.
Da ist die Nazi-Zeit schon über ein Jahr vorbei.
Das ist eine Waage für Babys.
Sie ist aus dem Jahr 1910.
Bis Mitte August 1945 gab es Aufnahmen in die Lüneburger »Kinderfachabteilung«. Nachdem der Ärztliche Direktor Max Bräuner und einzelne seiner Mitarbeiter*innen entlassen worden waren, wurde die Abteilung in »Kinderabteilung« umbenannt, aber nicht aufgelöst. Auch das gewaltsame Sterben ging weiter.
Im Frühling 1945 ist der Zweite Weltkrieg vorbei.
Aber die Kinder-Fachabteilung in Lüneburg
gibt es weiter.
Es ändert sich nichts.
Im August 1945 kommen noch mehr Kinder.
Dann darf der Arzt Max Bräuner nicht mehr arbeiten.
Einige Pfleger dürfen auch nicht mehr arbeiten.
Die Kinder-Fachabteilung in Lüneburg bekommt einen neuen Namen: Kinder-Abteilung.
Sonst ändert sich nichts.
Es sterben immer noch Kinder dort.

Heinz Knorr, um 1943.
Privatbesitz Familie Twesten.
Heinz Knorr aus Artlenburg verhungerte viele Monate nach Kriegsende. Er war bei der Räumung seines Dorfes weggelaufen. Seine Eltern hatten ihn vergeblich gesucht und bekamen erst nach seinem Tod die Nachricht, dass er in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen worden war.
Das ist ein Foto von Heinz Knorr aus dem Jahr 1943.
Er kommt aus Artlenburg.
Er ist 13 Jahre alt.
Es ist noch Krieg und
in Artlenburg kämpfen die Soldaten noch.
Heinz hat Angst.
Er läuft weg von zu Hause.
Man findet ihn.
Aber er kann nicht sagen, wer er ist.
Denn Heinz hat eine Behinderung.
Darum kommt er in die Anstalt nach Lüneburg.
Seine Eltern wissen nichts davon.
Dann stirbt Heinz.
Er verhungert.
Erst dann erfahren die Eltern:
Heinz war die ganze Zeit in der Anstalt in Lüneburg.
In diesem Kinderschuh lernte Rudolf Hagedorn das Laufen. Er gehört zu den wenigen Habseligkeiten, die seine Mutter während der Flucht aus Pommern zur Erinnerung an ihren »kleinen Rudi« retten konnte. Er wurde in einer Schachtel mit wenigen weiteren Erinnerungsstücken aufbewahrt und ist heute neben ein paar wenigen Fotos das Einzige, was Rudolfs Schwester Ingrid noch von ihrem Bruder besitzt. Rudolf verhungerte Ende Juni 1945 in der Lüneburger »Kinderfachabteilung«.
Das ist ein Kinderschuh von Rudolf Hagedorn.
Rudolf kommt aus Pommern.
In den Jahren 1944 und 1945 musste
seine Familie flüchten.
Auf der Flucht können sie nur wenig mitnehmen.
Diesen Schuh nehmen sie mit und ein paar Fotos.
Auf diesem Foto sitzt Rudolf auf dem Schoß
von seiner Mutter.
Er ist auf dem Foto 2 Jahre alt.
Rudolf kommt in die Kinder-Fachabteilung
nach Lüneburg.
Da ist er schon 15 Jahre alt.
Er verhungert dort im Juni 1945.
Seine Schwester passt viele Jahre auf die Sachen
von Rudolf auf.
Es sind die einzigen Sachen von Rudolf.
Es sind Erinnerungs-Stücke.
Jetzt sind sie in der Gedenkstätte Lüneburg.

Kinderschuh, um 1930.
Privatbesitz Ingrid Hruby | ArEGL 170.

Rudolf Hagedorn auf dem Schoß seiner Mutter Margarete, um 1931.
Privatbesitz Ingrid Hruby.
RUDOLF (RUDI) HAGEDORN (1929 – 1945)

Rudolf Hagedorn auf dem Schoß seiner Mutter Margarete, um 1931.

Ingrid auf dem Arm ihres Bruders Rudolf Hagedorn, etwa Januar 1943.
Privatbesitz Ingrid Hruby.
Rudolf Hagedorn stammte aus Arnswalde (Pommern). Sein Vater wurde bei Kriegsausbruch als Soldat eingezogen. Da Rudis Mutter arbeiten musste, übernahm er viele häusliche Aufgaben und die Betreuung seiner jüngeren Geschwister Kurt und Ingrid. 1944 musste die Familie flüchten und kam nach Soltau. Der neue Hausherr war grob zu den Geflüchteten. Rudi wurde als »anstaltsbedürftiges Kind« bei der Polizei gemeldet. Am 2. März 1945 wurde er gegen den Willen seiner Mutter von der Schutzpolizei zu Hause abgeholt und in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gebracht. Da er keine medizinisch zu behandelnden Auffälligkeiten zeigte, kam Max Bräuner zu der Einschätzung:
RUDOLF HAGEDORN
Rudolf Hagedorn kommt aus Arnswalde in Pommern.
Er hat 2 jüngere Geschwister.
Sein Vater ist als Soldat im Zweiten Weltkrieg.
Seine Mutter muss arbeiten.
Darum passt Rudolf auf seine Geschwister auf.
Und er hilft im Haushalt.
Dann muss die Familie aus Pommern flüchten.
Sie kommen nach Soltau.
Sie bekommen ein Zimmer bei einem fremden Mann.
Dort müssen sie wohnen.
Der Mann mag keine Kinder.
Er ist gemein zu ihnen.
Dann wird Rudolf bei der Polizei gemeldet.
Er soll in eine Anstalt.
Denn Rudolf hat Anfälle.
Seine Mutter sagt:
Nein.
Er bekommt Medikamente gegen die Anfälle.
Er ist ein ganz normaler Junge.
Die Mutter sagt das, weil sie Rudolfs Hilfe braucht.
Aber die Polizei holt Rudolf ab.
Sie bringt ihn in die Kinder-Fachabteilung
nach Lüneburg.
Die Mutter kann nichts dagegen tun.
Max Bräuner untersucht Rudolf.
Er stellt fest:
Rudolf hat keine Anfälle.
»Wenn er erst wieder hergestellt ist, könnte m. E. dem Gedanken seiner Entlassung nähergetreten werden.«
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.
Das ist aus der Kranken-Geschichte
von Rudolf Hagedorn.
Max Bräuner sagt:
Rudolf kann wieder nach Hause.
Aber davor muss er wieder kräftiger werden.
Mit der »Wiederherstellung« meinte Max Bräuner Rudis Rückkehr zu seinen alten Kräften. Sechs Tage später, am 27. Juni 1945, verhungerte Rudi in der »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Als sich seine Mutter sorgenvoll an die Anstalt wandte, um sich zu erkundigen, wie es ihm gehe, war er schon fünf Tage tot. Sie war nicht benachrichtigt worden.
Denn Rudolf ist ganz schwach.
Aber Rudolf bekommt nicht genug zu essen
in der Kinder-Fachabteilung.
Darum kann er nicht kräftiger werden.
Rudolf verhungert.
Er stirbt im Juni 1945.
Das ist eine Postkarte von Rudolfs Mutter.
Sie fragt:
Wie geht es meinem Sohn.
Sie weiß nicht:
Rudolf ist schon 5 Tage tot.
Keiner hat es ihr gesagt.

Karten von Margarete Hagedorn an die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg vom 2. und 5.7.1945.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 258.