NFC zu N-K-02
Kein Ende
Am 18. April 1945 wurde Lüneburg von britischen Truppen befreit, der Krieg war zu Ende. In der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aber veränderte sich nichts. Wochenlang interessierte sich die britische Militärverwaltung nicht für die Zustände. Die Beschäftigten mordeten weiter, bis die britische Sicherheitspolizei im August 1945 den Betrieb erstmals begutachtete. Doch auch nachdem Max Bräuner Arbeitsverbot erhalten hatte, ging das Sterben weiter. 1945 starben mehr als 35 Prozent der Erkrankten.
Im April 1945 kommen englische Soldaten
nach Lüneburg.
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei.
Die Nazis sind nicht mehr an der Macht.
Die englischen Soldaten bestimmen jetzt
in Lüneburg.
In der Anstalt in Lüneburg bleibt aber
alles gleich.
Die englischen Soldaten kümmern sich nicht um die Kranken in der Anstalt.
Die Ärzte und Pfleger töten weiter.
Viele Kranke sterben in der Anstalt.
Erst im August 1945 kommt
die englische Polizei nach Lüneburg.
Sie sehen sich die Anstalt zum ersten Mal an.
Die englischen Polizisten sind geschockt.
Denn sie sehen,
den Kranken geht es hier sehr schlecht.
Sie sagen:
Der Chef von der Anstalt Max Bräuner darf nicht mehr arbeiten.
Aber auch danach sterben die Kranken weiter.


Belegstärken und Sterblichkeit in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg 1910 bis 1947, mit Berechnungsfehler.
NLA Hannover Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28/7.
Zur Sterblichkeit in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg gab es jahrzehntelang nur eine einzige Berechnung. Diese floss ungeprüft in alle Ermittlungsverfahren und die Forschung ein, obwohl sie einen grundlegenden Fehler enthält. Die Berechnung geht davon aus, dass es keine Verlegungen von Erkrankten gegeben habe. Die Transporte von Erkrankten in andere Anstalten wurden bei der Berechnung nicht berücksichtigt. Wenn man aber den tatsächlichen, deutlich niedrigeren Bestand Erkrankter in Lüneburg zugrunde legt, liegen die Sterberaten wesentlich höher.
In der Nazi-Zeit sterben viele Menschen
in der Anstalt in Lüneburg.
Nach der Nazi-Zeit schreibt man auf,
wie viele Menschen gestorben sind.
Es gibt eine Liste.
Auf der Liste steht:
• Wie viele Kranke gibt es in der Anstalt
in einem Jahr?
• Wie viele Kranke sterben in der Anstalt
in einem Jahr?
Viele Jahre gibt es nur diese eine Liste.
Sie ist auch wichtig für Gerichts-Verfahren gegen die Nazis.
Aber die Liste ist falsch.
Man hat falsch gerechnet.
Denn auf der Liste steht nicht:
Viele Kranke aus Lüneburg sind
in anderen Tötungs-Anstalten gestorben.
Rechnet man richtig,
dann gibt es viel mehr Tote in Lüneburg.
Denn viele Kranke aus Lüneburg
sterben in anderen Tötungs-Anstalten.
Diese Kranke gehören aber trotzdem
zu Lüneburg.

Nachdem Willi Baumert 1943 in Vollzeit nach Lüneburg abgeordnet worden war, stieg die Sterberate auf über 30 Prozent. Weil er im September 1944 zum Kriegsdienst verpflichtet wurde, sank sie 1944 auf 27 Prozent. 1945 ist das Jahr der höchsten Sterblichkeit in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Infolge eines Massensterbens liegt sie über 35 Prozent. 1946 starb jeder fünfte, 1947 noch immer mehr als jeder zehnte Erkrankte.
In der Nazi-Zeit sterben viele Kranke
in der Anstalt in Lüneburg.
Ab dem Jahr 1943 arbeitet der Arzt
Willi Baumert ganz in Lüneburg.
Vorher arbeitet er nur 3 Tage in der Woche
in Lüneburg.
Nach dem Jahr 1943 gibt es mehr Tote
in Lüneburg als vorher.
Im Jahr 1944 muss Willi Baumert als Soldat
in den Zweiten Weltkrieg.
In dieser Zeit gibt es weniger Tote in der Anstalt in Lüneburg.
Im Jahr 1945 sterben in Lüneburg
3 von 10 Kranken.
Im Jahr 1946 sterben 5 von 10 Kranken.
Im Jahr 1947 stirbt einer von 10 Kranken.
Auch nach der Nazi-Zeit sterben also noch
viele Kranke in der Anstalt in Lüneburg.
Das geht noch bis zum Jahr 1947 so weiter.

Während des Krieges starben nicht mehr als drei Erkrankte am Tag. Das änderte sich Anfang April 1945. An einzelnen Tagen der Monate April, Mai und Juni starben ungewöhnlich viele Erkrankte. Es gab regelrechte »Sterbetage«. Ein natürlicher oder erkrankungsbedingter Tod ist unwahrscheinlich. Das Morden endete erst Ende August 1945. Noch bis zum Sommer 1946 wurde der Tod vieler Erkrankter durch Hunger sowie ausgeprägte Mangel- und Fehlversorgung billigend in Kauf genommen.
In der Nazi-Zeit sterben etwa 3 Kranke
an einem Tag in der Anstalt.
Nach der Nazi-Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg sterben noch mehr Kranke in der Anstalt.
Im Jahr 1945 sterben besonders viele Kranke
in den Monaten:
• April
• Mai
• Juni
• Juli
An einigen Tagen sterben etwa 12 Kranke.
Das ist nicht normal.
Im August 1945 hört der Kranken-Mord auf.
Aber es sterben trotzdem noch viele Kranke
in der Anstalt.
Das ist noch bis zum Sommer 1946 so.
Viele Kranke bekommen
• zu wenig Essen.
• zu wenig Hilfe.
• keine Medikamente.
• keine Behandlung.
Daran sterben viele Kranke.
Ärzte und Pfleger schauen zu.
Sie helfen den Kranken nicht.
Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« war in den Westzonen bis zur Gründung der BRD 1949 gültig. Obwohl die Durchführung des Gesetzes durch die Britische Militärregierung ausgesetzt worden war, blieb der Ärztliche Direktor Rudolf Redepenning an das Erbgesundheitsgericht Lüneburg abgeordnet, und es gab weiterhin Verfahren. Nur in der Ostzone wurde das Gesetz vollständig aufgehoben, und die beteiligten Ärzte wurden gerichtlich verfolgt. Anfang der 1950er-Jahre beantragten Betroffene eine Wiederaufnahme der Verfahren. Sie wollten bei ihren Rentenanträgen geltend machen, Opfer von NS-Unrecht zu sein. In vielen Fällen entschieden darüber die gleichen Richter, die während des Krieges Zwangssterilisationen angeordnet hatten.
Im Mai 1945 ist die Nazi-Zeit
in Deutschland vorbei.
Die Nazis sind nicht mehr an der Macht.
Aber die Gesetze von den Nazis gibt es
immer noch.
Viele Nazi-Gesetze gibt es noch
bis zum Jahr 1949.
Zum Beispiel: das Sterilisations-Gesetz.
Und es gibt immer noch Zwangs-Sterilisationen
in Deutschland.
Ab Mai 1949 ist Deutschland geteilt in:
die Bundesrepublik Deutschland und die DDR.
Jetzt gibt es neue Gesetze.
Und die Opfer von den Zwangs-Sterilisationen dürfen vor Gericht gehen.
Sie dürfen sagen:
Meine Sterilisation war ungerecht.
Das war ein Verbrechen.
Das Gericht kann entscheiden:
Diese Menschen sind Opfer von Nazi-Gewalt.
Darum sollen sie Schmerzens-Geld bekommen.
Aber im Gerichten sitzen die gleichen Richter
wie in der Nazi-Zeit.
Die Richter sagen:
Unsere Entscheidungen in der Nazi-Zeit
waren richtig.

Auszug aus dem Beschluss des Oberlandesgerichts Celle über die Wiederaufnahme der Erbgesundheitssache Georg Marienberg vom 9.10.1952.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1324.
1951 bemühte sich Georg Marienberg um Wiederaufnahme seiner Erbgesundheitssache und hoffte auf Entschädigung. Amtsgerichtsdirektor Jahn, der ab 1940 am Erbgesundheitsgericht Lüneburg Richter war, kam zu dem Ergebnis, dass sein Beschluss von damals rechtmäßig gewesen sei. Dagegen legte Georg Marienberg beim Oberlandesgericht Celle Beschwerde ein. Diese wurde 1952 zurückgewiesen. Das Verfahren wurde nicht wieder aufgenommen.
Georg Marienberg ist ein Opfer
von der Zwangs-Sterilisation.
Im Jahr 1951 geht er vor Gericht.
Er will Schmerzens-Geld.
Ein Richter soll das prüfen.
Georg Marienberg hat Pech.
Es ist der gleiche Richter wie in der Nazi-Zeit.
Der Richter sagt:
Meine Entscheidung in der Nazi-Zeit ist richtig.
Ich habe nichts falsch gemacht.
Georg Marienberg sagt:
Ich bin nicht erbkrank.
Meine Zwangs-Sterilisation war ein Verbrechen.
Aber die Richter sagen:
Das Gericht in Lüneburg hat richtig entschieden.
Georg Marienberg bekommt
kein Schmerzens-Geld.
Bei den Wiederaufnahmeverfahren saßen die Betroffenen oft den gleichen Richtern gegenüber, die zuvor über die Zwangssterilisationen entschieden hatten. Auch eine Intelligenzprüfung mussten sie erneut durchlaufen. So erging es auch Emmi Nielson, die genauso wie ihr Halbbruder Georg Marienberg die Wiederaufnahme beantragte. Ihr Antrag wurde abgelehnt, und sie musste die Kosten des Verfahrens selbst bezahlen.
Die Nazi-Zeit ist vorbei.
Aber oft sind die Nazi-Richter noch da.
Sie arbeiten weiter.
Nichts ändert sich.
Die Opfer von der Zwangs-Sterilisation sind
wieder Opfer.
Man macht die gleichen Tests mit ihnen
wie in der Nazi-Zeit.
Man überprüft auch nach der Nazi-Zeit wieder:
Hat eine Person eine Behinderung oder
eine Krankheit?
Und sie verlieren wieder vor Gericht.
Emmi Nielson verliert auch.
Sie bekommt auch kein Schmerzens-Geld.
Sie muss sogar das Geld für das Gericht bezahlen.

Auszug aus der Mitschrift der nicht öffentlichen Sitzung über die Wiederaufnahme der Erbgesundheitssache Emmi Nielson vom 25.5.1951.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 103/88 Nr. 662.

Auszug aus Bescheid in der Entschädigungssache Wilhelm Saul jun. vom 19.9.1959.
NLA Hannover Nds. 720 Lüneburg Acc. 139/90 Nr. 107.
Im Jahr 1958 bemühte sich Wilhelm Sauls Schwester um eine Entschädigung und Wiedergutmachung der Zwangssterilisation ihres Bruders. Sie reichte bei der Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg Klage ein. Die Klage wurde abgewiesen, weil die Abgabefrist wenige Tage überschritten war und die 1933 gesetzlich festgelegten »eugenischen Gründe« nicht hinterfragt wurden.
In der Nazi-Zeit bekommt Wilhelm Saul
eine Zwangs-Sterilisation.
Darum will er im Jahr 1958
Schmerzens-Geld haben.
Seine Schwester geht für ihn vor Gericht.
Im Jahr 1959 sagt das Gericht:
Es ist zu spät.
Die Frist ist abgelaufen.
Jetzt kann man nichts mehr machen.
Die Urteile aus der Zeit von 1934 bis 1949 wurden jahrzehntelang ausnahmslos bestätigt. Weil es auch in anderen Ländern ähnliche Sterilisationsgesetze gab, wurde das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« nicht als nationalsozialistisch bewertet.
Nach der Nazi-Zeit sagen die Gerichte:
Das deutsche Sterilisations-Gesetz ist
kein Nazi-Gesetz.
Denn es gibt solche Gesetze auch
in anderen Ländern.
Die Zwangs-Sterilisationen in der Nazi-Zeit waren
keine Verbrechen.
Denn es gab dafür ein Gesetz.
Für die Opfer ist es sehr schlimm,
dass die Gerichte so entscheiden.
»›Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ vom 14. Juli 1933 ist kein typisch nationalsozialistisches Gesetz, denn auch in demokratisch regierten Ländern – z. B. Schweden, Dänemark, Finnland und in einigen Staaten der USA – bestehen ähnliche Gesetze; das Bundesentschädigungsgesetz gewährt aber grundsätzlich Entschädigungsleistungen nur an Verfolgte des NS-Regimes und in wenigen Ausnahmefällen an Geschädigte, die durch besonders schwere Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze Schäden erlitten haben.«
Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 2/191, S. 10876 vom 7.2.1957.
Das ist ein Protokoll vom Deutschen Bundestag
vom 7. Februar 1957.
In dem Protokoll steht,
was Politiker bei einem Treffen besprechen.
Bei dem Treffen sagen Politiker:
Das Sterilisations-Gesetz ist kein Nazi-Gesetz.
Und das Sterilisations-Gesetz ist
nicht ungerecht.
Denn in anderen Ländern gibt es auch
solche Gesetze.
Zum Beispiel:
• in Schweden
• in Dänemark
• in Finnland
• in den USA
ANGEHÖRIGE ERINNERN
Angehörige begleiten die Gedenkstättenarbeit durch Gespräche und Interviews, indem sie Fotos und Dokumente zur Verfügung stellen und die Gedenkstätte bei ihrer Weiterentwicklung beraten. Sie erfahren oftmals erst heute vom Schicksal ihrer Verwandten.
ANGEHÖRIGE ERINNERN
Viele Opfer vom Kranken-Mord haben Familie.
Und einige Familien-Mitglieder leben heute noch.
Sie geben der Gedenkstätte Fotos und Briefe
von den Opfern.
Und sie erzählen die Geschichte von den Opfern.

Deutscher Bundestag, Abstimmung über die Ächtung des »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, 2007. Mehrere Abgeordnete stimmen dagegen und mehrere enthalten sich.
Film »Schöner neuer Mensch. Rassenhygiene als Staatsziel«
(NDR, 2015); Timecode 00:41:27.
1980 konnten Betroffene eine Einmalzahlung von 5.000 DM beantragen. 1988 bezeichnete der Deutsche Bundestag die Zwangssterilisationen zum ersten Mal als NS-Unrecht. Erst 1992 wurde gesetzlich verboten, Menschen gegen ihren Willen zu sterilisieren. Die Urteile der Erbgesundheitsgerichte wurden 1998 aufgehoben. 2011 wurden erstmals Entschädigungen in Höhe von monatlich 291 Euro ausgezahlt.
Die Opfer von der Zwangs-Sterilisation bekommen lange Zeit kein Schmerzens-Geld.
Im Jahr 1980 können die Opfer zum ersten Mal einen Antrag für Schmerzes-Geld stellen.
Dann bekommen sie einmal 5 000 Mark.
Im Jahr 1988 sagt der Deutsche Bundestag:
Das Sterilisations-Gesetz von den Nazis
ist ungerecht.
Das Gesetz dafür gibt es aber immer noch.
Erst seit dem Jahr 1992 darf es
keine Zwangs-Sterilisationen mehr geben.
Im Jahr 1998 werden alle Entscheidungen
vom Erb-Gesundheits-Gericht aufgehoben.
Das heißt: Die Urteile zählen nicht mehr.
Seit dem Jahr 2011 bekommen die Opfer
von Zwangs-Sterilisationen Schmerzens-Geld.
Sie bekommen jeden Monat 291 Euro.
Das ist nicht viel Geld.
Und die meisten Opfer sind schon tot.
Das ist ein Foto vom Deutschen Bundestag
aus dem Jahr 2007.
Die Politiker machen eine Abstimmung:
Ist das Sterilisations-Gesetz von den Nazis ungerecht?
Einige Politiker sagen nein.
Das Gesetz von den Nazis ist kein Unrecht.
Viele Politiker stimmen nicht mit ab.
Die Überlebenden der »Kinderfachabteilung« und die Angehörigen der Opfer der Krankenmorde blieben von der späten Aufarbeitung der Verbrechen weitgehend ausgeschlossen. Die Familien wussten oft jahrzehntelang nichts über das tatsächliche Schicksal ihrer Angehörigen. Wenn sie heute von deren Todesumständen erfahren, haben sie keinen Anspruch mehr auf eine Entschädigung oder Wiedergutmachung. Die Verbrechen gelten als verjährt. Die Opfer und ihre Familien gehören zu den NS-Geschädigten, deren Verluste nie gesühnt wurden.
Einige Kinder aus der Kinder-Fachabteilung
in Lüneburg überleben.
Und es gibt Familien von den Opfern
vom Kranken-Mord.
Nach der Nazi-Zeit untersucht man
die Verbrechen von den Nazis.
Man will wissen was passiert ist.
Aber keiner interessiert sich
• für die Überlebenden.
• die Familien von den Opfern.
Keiner fragt sie, wie es in der Nazi-Zeit war.
Viele Familien wissen nichts vom Kranken-Mord.
Sie erfahren erst sehr spät:
In meiner Familie gibt es ein Opfer
vom Kranken-Mord.
Sie bekommen kein Schmerzens-Geld.
Denn der Mord ist schon zu lange her.
WEITERDENKEN UND NEUBEWERTEN
Die Behandlung der Erkrankten in der Anstalt verbesserte sich nur allmählich. Bis 1975 gab es in der BRD und der DDR kein Umdenken. Erst als eine Psychiatrie-Untersuchungskommission im Auftrag der Bundesregierung zu dem Ergebnis kam, dass in vielen psychiatrischen Einrichtungen der BRD immer noch menschenunwürdige Verhältnisse herrschten, veränderte sich die Versorgung im Sinne der Erkrankten. In den 1980er-Jahren gab es diesen Aufbruch auch in der DDR.
WEITERDENKEN UND NEUBEWERTEN
Ab dem Jahr 1975 will man in den Anstalten
in Deutschland etwas verändern.
Darum sagt die Bundesregierung:
Wir müssen alle Anstalten überprüfen.
Das ist das Ergebnis von der Prüfung:
In vielen Anstalten ist es immer noch
wie in der Nazi-Zeit.
Es gibt zu viel Gewalt.
Es gibt zu wenig Menschlichkeit.
Es gibt eine schlechte Versorgung.
Aber es gibt keine Morde mehr.
Das Ergebnis von der Prüfung ist auch:
Die Pflege in den Anstalten muss besser werden.
Die Ausstattung von den Anstalten muss
besser werden.
Zum Beispiel: kein Schlaf-Saal mehr. Keine Schläge mehr.
Die Angebote für die Patienten müssen
besser werden.
Die im Nationalsozialismus eingeführte Intelligenzprüfung fand noch weit nach 1945 Anwendung. Nur in Bezug auf Fragen zum politischen Geschehen wurde der Test verändert. Der Verfasser Gerhard Kloos leitete während der NS-Zeit die »Kinderfachabteilung« Stadtroda. Außerdem hatte er sich vor 1945 in der Ärzteschaft mit einer »Stufenbehandlung« (Zwangsarbeit, Unterernährung und Therapieverweigerung) sowie der Vergiftung politisch Andersdenkender einen Namen gemacht. Als die dritte Auflage seiner Intelligenzprüfung erschien, leitete er das Krankenhaus Bad Pyrmont in Südniedersachsen.
In der Nazi-Zeit testet man viele Menschen.
Man testet, wie schlau ist ein Mensch.
Das macht man mit einem Denk-Test.
Die Menschen müssen bei dem Test
viele Fragen beantworten.
Es gibt in dem Test auch viele Fragen zu den Nazis.
Der Denk-Test ist von dem Arzt Gerhard Kloos.
In der Nazi-Zeit ist er Chef
von der Kinder-Fachabteilung Stadtroda.
Er ermordet Kinder und Jugendliche.
Auch nach der Nazi-Zeit gibt es den Denk-Test
von Gerhard Kloos noch.
Man testet immer noch, wie schlau ist ein Mensch.
Man benutzt den gleichen Test wie in der Nazi-Zeit.
Nur die Fragen zu den Nazis fehlen.
Es gibt gar keine Fragen mehr zu Politik.

Gerhard Kloos: Anleitung zur Intelligenzprüfung in
Erbgesundheitsgerichtsverfahren, Jena 1941.
Das ist der Denk-Test aus dem Jahr 1941
von Gerhard Kloos.
In diesem Test gibt es Nazi-Fragen.
Das ist der Denk-Test aus dem Jahr 1952
von Gerhard Kloos.
In diesem Test gibt es keine Nazi-Fragen mehr.
Es gibt gar keine Fragen mehr zu Politik.

Gerhard Kloos: Anleitung zur Intelligenzprüfung in
der psychiatrischen Diagnostik, Stuttgart 1952.
Auch heute gibt es Intelligenz-Tests, die teilweise nicht berücksichtigen, ob eine Testperson ausländischer Herkunft ist. Aus diesem Grund wird für viel zu viele Kinder ausländischer Herkunft ein »Förderbedarf für geistige Entwicklung« festgestellt. Auch Zweisprachigkeit wird als beeinträchtigend bewertet. Trotzdem sind solche Tests ein Hilfsmittel, um Förderbedarfe zu erkennen.
Heute gibt es auch Denk-Tests.
Alle Menschen bekommen den gleichen Test.
Es ist egal,
• ob man Deutsch spricht.
• ob man eine andere Sprache spricht.
• ob man aus einer anderen Kultur kommt.
Darum hat der Test oft ein falsches Ergebnis.
Das Ergebnis vom Test ist zum Beispiel:
Ein Kind hat eine Behinderung.
Denn das Kind hat nur wenige Punkte
bei dem Test gemacht.
Aber das stimmt nicht.
Das Kind hat die Fragen vom Test nicht verstanden.
Denn das Kind kann nur wenig Deutsch.
Nach dem Bericht der Psychiatrie-Untersuchungskommission 1975 folgte eine Abkehr von der bisherigen Anstaltspflege. Die Bedürfnisse und Nöte von Betroffenen und ihren Familien wurden erstmals mitberücksichtigt. Zwangsmaßnahmen wurden seltener eingesetzt. Es wurde viel getan, um Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen und Behinderungen abzubauen. Trotzdem gibt es bis heute das Denken, Erkrankte und Menschen mit Beeinträchtigungen seien nicht gleichwertig mit Gesunden. Auf Gewinn ausgerichtete Einrichtungen verstärken dieses Denken, denn schnell werden Betroffene wieder zu »Ballastexistenzen«.
Nach dem Jahr 1975 gibt es gute Veränderungen
in den Anstalten in Deutschland:
• Man fragt die Familien,
was sie wollen und was ihnen wichtig ist.
• Es gibt weniger Zwang und Gewalt.
• Es gibt weniger Vorurteile
gegen Menschen mit Behinderung.
• Es gibt mehr Infos über Krankheiten
und Behinderungen.
Trotzdem:
Menschen mit und ohne Krankheiten werden
nicht gleich behandelt.
Viele Menschen denken immer noch:
Menschen mit Krankheiten sind weniger wert
als gesunde Menschen.
Zum Beispiel: Der Staat will nur wenig Geld
für Menschen mit Krankheiten bezahlen.

Stickdeckchen, Patientenarbeit, Herkunft unbekannt, übermittelt von Helga Guddat, 1975.
StArEGL 21.
Es ist nicht bekannt, wer dieses Taschentuch bestickt
hat. Aber wie bei Martha Kaufmanns Stickerei im
Raum HANDELN, geben die Motive und Schriftzüge
das Erleben der Psychiatrie im Jahr 1975 wieder.
Das ist ein Taschentuch.
Keiner weiß, von wem es ist.
Es ist aus dem Jahr 1975.
Die Jahreszahl ist auf das Taschentuch gestickt.
Auf dem Taschentuch steht auch:
Wie ist das Leben in einer Anstalt.
Dieses Taschentuch ist so wie das Taschentuch
von Martha Kaufmann.
Das haben wir im Raum Handeln gezeigt.

»Keinen Tag länger«, in: Lüneburger Landeszeitung vom 20.3.1976, S. 3.
StadtALg, 8.2-LLA-B, 476.
Um die Versorgung der Erkrankten im Lüneburger Landeskrankenhaus zu verbessern, wurde von 1974 bis 1978 ein neues, zentrales Gebäude als »Klinikum« errichtet.
Das ist ein Zeitungs-Bericht aus dem Jahr 1976.
In dem Bericht steht:
Die Anstalt in Lüneburg bekommt
ein neues modernes Hauptgebäude.
Hier soll es den Kranken besser gehen.
Das Foto ist von der Einweihung
vom neuen Gebäude von der Anstalt.
Das Foto ist aus dem Jahr 1978.
Das ist ein Zeitungs-Bericht über die Anstalt
aus dem Jahr 1978.
In dem Bericht steht:
Das neue Gebäude von der Anstalt wird
sehr modern.

»Mit 77 Jahren wird das LKH modern«, in: Lüneburger Landeszeitung vom 31.1.1978, S. 12.
StadtALg, 8.2-LLA-B, 498.

Fragebogen der Medizinischen Hochschule Hannover zum Forschungsprojekt »Psychiatrische Erkrankungen bei ausländischen Mitbürgern in der Bundesrepublik«, Frühjahr 1984.
ArEGL 19.
Erkrankten ausländischer Herkunft wird auch nach 1975 noch mit Vorurteilen begegnet. Ein Forschungsvorhaben der Universität Hannover ging davon aus, dass es einen Zusammenhang zwischen ausländischer Herkunft und psychischer Erkrankung gebe. Als einzige Klinik beteiligte sich das Lüneburger Krankenhaus nicht an dieser Studie. Ausschlaggebend waren aber nicht ethische Gründe, sondern der Datenschutz. Bis heute sind die Unterstützung von Erkrankten ausländischer Herkunft und die Vermeidung von Mehrfachdiskriminierung nicht überall selbstverständlich.
Man behandelt kranke Menschen
aus anderen Ländern oft ungerecht.
Man behandelt sie anders,
als kranke Menschen aus Deutschland.
Man behandelt sie schlecht,
• weil sie krank sind und
• weil sie aus einem anderen Land kommen.
Das ist auch heute noch oft so.
Im Jahr 1984 gibt es dazu Forschungen
an der Universität Hannover.
Die Forscher behaupten:
Kranke aus dem Ausland sind nur krank,
weil sie aus dem Ausland kommen.
Aber das ist ein Vorurteil.
Und das Vorurteil gibt es auch heute noch.

Hans Heinze senior (links) mit seinem Sohn Hans Heinze junior (2. von rechts) und den drei Enkelkindern, etwa 1966.
Privatbesitz Hilde Winkelmann | Arbeitskreis Stolpersteine Rehburg-Loccum.
Von 1954 bis 1978 wurden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf sowie in Heimen, die ärztlich von dort betreut wurden, mindestens 18 Arzneimittel- und Impfstoff-Studien an Säuglingen, Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Diese Studien erfolgten ohne Einwilligung der Betroffenen, verantwortlicher Arzt war zunächst Hans Heinze senior und ab 1966 Hans Heinze junior. Durch die Zusammenarbeit mit Fritz Stöckmann, von 1960 bis 1974 Leitender Arzt der Rotenburger Anstalten, gab es auch dort Medikamentenerprobungen. Eine 2017 vom Niedersächsischen Sozialministerium beauftragte Untersuchung kam zwei Jahre später unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich die Anzahl der geschädigten Kinder und Jugendlichen nicht mehr ermitteln lasse. Auch über mögliche Schädigungen von Kindern durch die Studien traf die Untersuchung keine Aussage.
Medikamente helfen bei Krankheiten.
Aber man muss Medikamente testen,
bevor man sie benutzen kann.
Man prüft,
ob die Medikamente wirklich helfen.
Und man prüft, wie sie helfen.
In Wunstorf gibt es eine Anstalt
für Kinder und Jugendliche.
In den Jahren 1954 bis 1978 macht man hier Tests für neue Medikamente.
Man macht die Tests mit Kindern und Jugendlichen.
Aber:
Man fragt die Kinder und Jugendlichen vorher nicht.
Sie sind nicht einverstanden mit den Tests.
Und die Medikamente machen krank.
Den Kindern geht es schlecht
mit den Medikamenten.
Diese Tests macht man auch in anderen Heimen und in der Anstalt in Rotenburg.
Das passiert zwischen den Jahren 1954 und 1978.
Diese Tests sind verboten.
3 Ärzte machen die verbotenen Tests.
Die Ärzte heißen: Hans Heinze (Vater), Hans Heinze (Sohn) und Fritz Stöckmann.
Viele Jahre später kommt alles raus.
Es gibt eine Untersuchung.
Das sind die Ergebnisse von der Untersuchung:
• Es gab verbotene Versuche an Menschen.
• Man hat viele Medikamente benutzt.
• Keiner weiß, wie viele Kinder gestorben sind
• Keiner weiß,
wie viele Kinder krank geworden sind.
• Keiner weiß,
wie sehr die Kinder leiden mussten.