NFC zu H-K-05
HANDLUNGSSPIELRÄUME
Fast alle am Krankenmord Beteiligten hinterfragten ihr Handeln nicht. Sie widersprachen nicht, handelten offenbar ohne Zweifel und ohne schlechtes Gewissen. Im Zusammenhang mit den Lüneburger Verbrechen gab es nur Einzelne, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchten, nicht mitzumachen.
HANDLUNGS-SPIELRÄUME
Viele Menschen machen mit
beim Kranken-Mord in der Nazi-Zeit.
Sie denken nicht darüber nach.
Sie sagen nicht nein.
Sie haben kein schlechtes Gewissen.
In Lüneburg gibt es nur sehr wenige Menschen, die den Kranken helfen.
Nur sehr wenige Menschen sagen nein
zum Kranken-Mord.

Brief vom Oberpräsidenten der Provinz Hannover Georg Andreae an das Reichsministerium des Innern vom 11.7.1940.
NLA Hannover Hann. 155 Göttingen Acc. 58/83 Nr. 10.
Georg Andreae von der Provinzialverwaltung Hannover reiste nach Berlin, um die Meldung der Erkrankten hinauszuzögern. Dort setzte er durch, dass einzelne Erkrankte von einer Verlegung in eine Tötungsanstalt zurückgestellt werden konnten. Er wollte auch erreichen, dass die Bewertung der »Nützlichkeit« sehr weit ausgelegt würde. Damit hatte er jedoch keinen Erfolg. Er ließ sich davon überzeugen, dass es einen Führerbefehl gebe und nutzte seinen Spielraum nicht, möglichst viele Menschen zurückzustellen.
Das ist ein Brief von Georg Andreae.
Er schreibt diesen Brief
an das Innenministerium von Deutschland.
Der Brief ist vom 11. Juli 1940.
Georg Andreae ist der Chef von der Verwaltung
in Hannover.
Er versucht den Kranken zu helfen.
Er will,
• dass die Meldung von Kranken länger dauert.
• dass die Ärzte weniger Kranke melden.
• dass viele Kranke gute Bewertungen bekommen.
Dann werden sie vielleicht nicht getötet.
Aber Georg Andreae hat keinen Erfolg.
Er schafft nur: Kranke werden später ermordet.
Georg Andreae glaubt:
Adolf Hitler gibt den Befehl für den Mord.
Als Fachmänner wussten Georg Andreae, Ludwig Geßner und Gottfried Ewald, dass es sich bei der »Euthanasie« um geplanten Mord handelte. Sie waren dagegen. Ihrer Meinung nach sollten Menschen mit Behinderungen nicht ermordet werden, stattdessen nur das Allernötigste an Pflege und Fürsorge erhalten. Gemeinsam verfassten sie eine Denkschrift an Reichsinnenminister Wilhelm Frick gegen die »Euthanasie«. Diese hatte jedoch keine Wirkung.
Georg Andreae, Ludwig Geßner und
Gottfried Ewald sind Fachleute für Recht.
Sie kennen sich mit den Gesetzen
in der Nazi-Zeit gut aus.
Sie wissen:
Der Kranken-Mord ist ein Verbrechen.
Sie sind gegen den Kranken-Mord.
Menschen mit Behinderung sollen nicht
ermordet werden.
Menschen mit Behinderung sollen
Pflege bekommen.
Und man soll sich um die Menschen kümmern.
Aber es soll nur wenig Pflege und Fürsorge geben. Es soll nur zum Leben reichen.
Georg Andreae, Ludwig Geßner und
Gottfried Ewald schreiben einen Brief.
Der Brief ist
für den Innenminister von Deutschland.
In dem Brief steht:
Der Kranken-Mord muss aufhören.
Aber sie haben keinen Erfolg.

Auszug aus der Mitschrift der staatsanwaltlichen Vernehmung von Georg Andreae vom 11.5.1948.
NLA Hannover Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28/1.
GEORG ANDREAE (1888 – 1983)

Auszug aus dem Protokoll der staatsanwaltlichen Vernehmung von Georg Andreae vom 11.5.1948.
NLA Hannover Nds. 721 Hannover Acc. 61/81 Nr. 28/1.
Georg Andreae stammte aus Göttingen und heiratete 1918. Er studierte Rechtswissenschaften in Berlin, München, Freiburg und Kiel. 1933 trat er in die NSDAP ein und wurde SS-Mitglied. Von 1934 bis Kriegsende war er bei der Provinz Hannover Verwaltungsleiter für die (Jugend- und Wohlfahrts-)Fürsorge sowie die Heil- und Pflegeanstalten. Damit war er sowohl für die Umsetzung der »Aktion T4« als auch für nachfolgende »Euthanasie«-Maßnahmen in der Provinz Hannover zuständig. Nach seiner Entlassung 1945 wurde er Geschäftsführer des Niedersächsischen Herbergsverbandes und unterrichtete Rechtskunde an der Diakonenschule im Stephansstift Hannover. 1947 wurde er als »Mitläufer« entnazifiziert. 1948 wurde gegen ihn, Ludwig Geßner und Paul Fröhlich ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord eingeleitet. Ende 1950 wurden alle drei freigesprochen. Georg Andreae starb 1983.
GEORG ANDREAE
Georg Andreae kommt aus Göttingen.
Er heiratet im Jahr 1918.
Georg Andreae studiert Recht
in verschiedenen Städten.
Im Jahr 1933 wird er Mitglied
in der Nazi-Partei und in der SS.
Die SS ist eine Spezial-Polizei von den Nazis.
Georg Andreae arbeitet im Amt.
Er ist Chef von der Fürsorge.
Die Fürsorge kümmert sich um Jugendliche und arme Menschen.
Georg Andreae ist auch Chef
von den Anstalten in Deutschland.
Er ist zuständig für den Kranken-Mord.
Und er ist zuständig für den Kranken-Mord
mit Gas.
Die Nazis nennen das: Aktion T4.
Nach der Nazi-Zeit arbeitet Georg Andreae weiter.
Er unterrichtet Recht.
Und er ist Chef von verschiedenen Einrichtungen.
Aufgrund ihrer Erfahrungen in der Pflege von Kindern und Jugendlichen übernahm Oberpflegerin Marie Jürgen (1891 – 1994) die Leitung der »Kinderfachabteilung« Lüneburg. Kurz darauf trat sie einen Urlaub an. Als sie nach zwei Wochen zurückkam, nutzte Max Bräuner seinen Handlungsspielraum und ersetzte sie durch Wilhelmine Wolf, von der er sich die erforderliche Entschlossenheit und Gesinnung versprach.
In der Nazi-Zeit ist Marie Jürgen für kurze Zeit Chefin von der Kinder-Fachabteilung in Lüneburg.
Dann macht sie Urlaub.
Als sie zurück kommt, ist sie nicht mehr Chefin.
Jetzt ist Wilhelmine Wolf
Chefin von der Kinder-Fachabteilung.
Max Bräuner ist der Chef
von der Anstalt in Lüneburg.
Er entscheidet:
Marie Jürgens kann nicht
Chefin von der Kinder-Fachabteilung sein.
Denn sie will nicht mitmachen
beim Kranken-Mord.
Darum wird Wilhelmine Wolf
Chefin von der Kinder-Fachabteilung.
Sie will beim Kranken-Mord mitmachen.
Das alles erzählt Marie Jürgens nach der Nazi-Zeit.

Auszug aus der Vernehmung von Marie Jürgen vom 25.4.1949.
NLA Hannover Nds. 721 Lüneburg Acc. 8/98 Nr. 3.

Brief von Ingeborg Weber an die Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim, Direktor Grimme, vom 10.11.1941.
NLA Hannover Nds. 721 Lüneburg Acc. 8/98 Nr. 3.
Ingeborg Weber war ihrer Abordnung nach Lüneburg nur widerwillig gefolgt. Sie war Berufsanfängerin und hatte ihre Ausbildung erst im Juni 1941 abgeschlossen. Als sie verstand, dass ihre »besondere Verwendung« Kindermord bedeutete, bat sie um ihre Rückversetzung nach Hildesheim. Diese wurde abgelehnt, stattdessen wurde sie endgültig nach Lüneburg versetzt. Als Max Bräuner auch einen Urlaubsantrag ablehnte und sie in Lüneburg bleiben musste, war sie so verzweifelt, dass sie sich 1942 das Leben nahm.
Ingeborg Weber ist Pflegerin
in der Anstalt in Hildesheim.
Im Jahr 1941 ist sie fertig mit der Ausbildung.
Ingeborg Weber wird in die Anstalt
nach Lüneburg geschickt.
Sie soll dort arbeiten.
Aber sie will nicht in Lüneburg arbeiten.
Denn sie weiß:
Sie soll in Lüneburg Kinder ermorden.
Sie will keine Kinder ermorden.
Sie will zurück nach Hildesheim.
Aber sie darf nicht zurück nach Hildesheim.
Sie muss in Lüneburg bleiben.
Dann will sie Urlaub machen.
Aber Max Bräuner erlaubt ihr
den Urlaub nicht.
Ingeborg Weber ist sehr unglücklich
und verzweifelt.
Im Jahr 1942 bringt sie sich um.
Das ist ein Brief von Ingeborg Weber
an ihren alten Chef in Hildesheim.
Sie will zurück nach Hildesheim.
Der Brief ist vom 10. November 1941.
HANDLUNGSSPIELRÄUME
Eine Rettung vor der Ermordung in den Tötungsanstalten Brandenburg, Pirna-Sonnenstein, Hadamar und Pfafferode war nahezu unmöglich. Die Familien erhielten die Nachricht über eine Verlegung oft erst dann, wenn der Mord bereits geschehen war. Eine Rettung war höchst selten. Vier Erkrankte überlebten ihre Verlegung in Tötungsanstalten durch Rückstellungen oder durch eine Rückführung nach Lüneburg. Sie sind Ausnahmen.
Die Nazis bringen viele Kranke
in die Tötungs-Anstalten
• Brandenburg,
• Pirna-Sonnenstein,
• Hadamar und
• Pfaffenrode.
Nur wenige Kranke überleben
in den Tötungs-Anstalten.
Die Familien von den Kranken bekommen
eine Nachricht.
In der Nachricht steht:
Die Kranken kommen in eine andere Anstalt.
Die Nachricht kommt aber erst,
wenn die Kranken schon tot sind.
Die Familien können dann nichts mehr machen.
Sie können die Kranken nicht mehr retten.
Nur 4 Kranke aus Lüneburg überleben
in den Tötungs-Anstalten.

Herta Braun, 1924.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 03270.

Paula Jahn, 1937.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 01135.

Karl Reich, um 1922.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 08339.

Heinrich Brandt, um 1914.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 07628.
Nur einzelne Erkrankte wurden von der Zwischenanstalt Herborn nicht in die »T4«-Tötungsanstalt Hadamar weiterverlegt. Zwei Frauen wurden von Herborn zurück nach Lüneburg gebracht. Zwei Männern gelang es, in der Tötungsanstalt Hadamar von der Gaskammer zurückgestellt zu werden. Sie wurden auf dem anstaltseigenen Bauernhof Schnepfenhausen als Arbeitskräfte gebraucht. Diese vier Erkrankten überlebten.
Die Nazis bringen viele Kranke aus Lüneburg
in andere Anstalten.
Dort wollen die Nazis die Kranken
mit Gas ermorden.
Die Nazis nennen das: Aktion T4.
Nur 4 Kranke aus Lüneburg überleben
in den anderen Anstalten:
• Herta Braun.
• Paula Jahn.
• Karl Reich.
• Heinrich Brandt.
Sie überleben die Aktion T4.
Sie sind die einzigen Überlebenden
aus der Anstalt in Lüneburg.
Herta Braun und Paula Jahn kommen
in die Zwischenanstalt Herborn.
Von dort kommen sie zurück nach Lüneburg.
Karl Reich und Heinrich Brandt kommen
in die Tötungs-Anstalt Hadamar.
Sie werden dort nicht ermordet.
Denn die Nazis merken:
Die beiden können arbeiten.
Sie sollen auf einem Bauernhof arbeiten.
Darum überleben Karl Reich und
Heinrich Brandt.
HEINRICH BRANDT (1882 – 1957)
Heinrich Brandt aus Bornberg bei Cuxhaven stammte aus einer Familie, in der viel Alkohol getrunken wurde. Auch er wurde alkoholabhängig. 1912 starb seine Mutter, wenige Wochen vor seiner Sicherungsunterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Der familieneigene Bauernhof wurde von seinem Bruder Johann weitergeführt. Heinrich Brandt war immer wieder straffällig geworden, um sich Geld für Essen und Alkohol zu beschaffen. Als er 1914 erfuhr, dass sein Onkel gestorben war, entwich er. Drei Wochen später wurde er festgenommen und wieder in Lüneburg eingewiesen. So überlebte er den Ersten Weltkrieg und wurde 1919 entlassen. 1922 wurde er rückfällig. Nach zwei Aufenthalten im Hamburger Gefängnis »Santa Fu« ordnete das Gericht in Stade erneute Sicherungsunterbringung an, weil:
HEINRICH BRANDT
Heinrich Brandt kommt aus Bornberg
bei Cuxhaven.
In seiner Familie trinken alle viel Alkohol.
Heinrich trinkt auch viel Alkohol.
Er ist alkoholkrank.
Er braucht viel Geld für den Alkohol.
Darum klaut er Geld.
Er ist ein Dieb und er ist krank.
Darum kommt er in die Anstalt nach Lüneburg.
Man nennt das auch: Sicherungs-Verwahrung.
Im Jahr 1914 stirbt der Onkel von Heinrich Brandt.
Als Heinrich davon erfährt,
läuft er weg aus der Anstalt.
Man sucht ihn und findet ihn 3 Wochen später.
Man nimmt ihn wieder fest.
Er kommt wieder in die Anstalt.
Im Jahr 1919 entlässt man Heinrich Brandt
aus der Anstalt.
Im Jahr 1922 ist er wieder alkoholkrank.
Und er kommt in ein Gefängnis.
Das Gefängnis heißt: Santa Fu.
Das Gefängnis ist in Hamburg.
»eine intellektuelle Minderwertigkeit des Angeklagten liegt nach der Überzeugung des Gerichtes nicht vor.«
Beschluss des Landgerichtes Stade vom 10.1.1936.
Archiv Gedenkstätte Hadamar. Best. 12/K2978.
Im Jahr 1936 entscheidet das Gericht:
Heinrich Brandt muss wieder in die Anstalt
nach Lüneburg.
Er kommt wieder in Sicherungs-Verwahrung.

Eintrag von Gustav Marx in der Krankengeschichte von Heinrich Brandt.
Archiv Gedenkstätte Hadamar. Best. 12/K2978.
Nach dem Alkoholentzug verhielt sich Heinrich Brandt vorbildlich und »nützlich«. Trotzdem wurde er in die »Aktion T4« verlegt. Dies lag wohl auch daran, dass er unbequem wurde:
»Verhält sich den Pflegern gegenüber teilweise ziemlich anmaßend, läßt sich nicht gern etwas sagen. Soll nach Angabe der Pfleger zeitweise hochzensierte Reden führen und abfällige Kritik an der jetzigen Regierungsform üben.«
In der Anstalt bekommt Heinrich Brandt
keinen Alkohol.
Er macht einen Entzug.
Nach dem Entzug geht es Heinrich Brandt besser.
Er verhält sich gut und er macht alles richtig.
Trotzdem meldet man ihn
für den Kranken-Mord mit Gas.
Er kommt in die Aktion T4.
In seiner Kranken-Geschichte steht:
Heinrich Brandt will immer Recht haben.
Heinrich Brandt ist gegen die Nazis.
Vielleicht ist das der Grund,
warum er in die Aktion T4 kommt.
Es ist anzunehmen, dass Heinrich Brandt erahnte, was ihm und seinen Mitpatienten drohte. Nach seiner Rückstellung von der Gaskammer verhielt er sich wie erwünscht, geradezu überangepasst. Das rettete ihm das Leben. 1942 unterstützte er Hedwig Siebert beim Betrieb ihres Kinos. 1945 setzte sie sich vehement für seine Entlassung ein. Am 11. Februar 1946 durfte er gehen. Später zog er zurück in seine Heimat und starb am 2. Dezember 1957 in Bornberg.
Heinrich Brandt weiß:
Ich bin in Gefahr.
Er hält sich jetzt an alle Regeln.
Er ist besonders nett und freundlich.
So rettet er sein Leben.
Im Jahr 1942 hilft er Hedwig Siebert.
Hedwig Siebert hat ein Kino.
Heinrich Brandt hilft im Kino.
Darum will Hedwig Siebert
Heinrich Brandt auch helfen.
Im Jahr 1945 will Hedwig Siebert,
dass Heinrich Brandt aus der Anstalt raus kommt.
Sie schreibt einen Brief an die Anstalt.
In dem Brief steht:
Heinrich Brandt soll raus aus der Anstalt.
Er ist schon 3 Jahre bei ihr.
Er ist ein guter Mann.
Er soll ein freier Mann werden.
Im Februar 1946 darf Heinrich Brandt
die Anstalt verlassen.
Er ist jetzt ein freier Mann.


Brief von Hedwig Siebert mit Rückantwort an die Heil- und Pflegeanstalt Hadamar vom 11.8.1945.
Archiv Gedenkstätte Hadamar. Best. 12/K2978.
DOROTHEA KALIWE (GEB. GRIESBACH) (1890 – 1967)

Dorothea Kaliwe wurde von ihrer Tochter Ursula und dem Schwiegersohn Theo Zobel vor der »Euthanasie« gerettet. Ihre Rettung ist eine Ausnahme. Sie war mit dem Förster Ernst Kaliwe verheiratet, sie hatten drei Kinder: Günter, Ursula und Ernst. Nach dem Ersten Weltkrieg verließ die Familie ihre Heimat und kam schließlich nach Scharnebeck. Dorothea erkrankte an Depressionen, wohl auch als Folge einer Fehlgeburt und häuslicher Gewalt. Ab 1928 wurde sie dauerhaft Patientin der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. 1943 wurde sie in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. Ihre Tochter und der Schwiegersohn fuhren hinterher. Als Förster besaß er eine Waffe und drohte den Ärzten:
DOROTHEA KALIWE
Dorothea ist mit Ernst Kaliwe verheiratet.
Dorothea und Ernst haben 3 Kinder:
Günter, Ursula und Ernst.
Die Familie lebt in Scharnebeck.
Dorothea Kaliwe wird krank.
Sie ist sehr traurig.
Sie bekommt eine Depression.
Das ist der Grund dafür:
Dorothea Kaliwe hat eine Fehlgeburt.
Und ihr Mann Ernst schlägt sie.
Sie kommt in die Anstalt nach Lüneburg.
Im Jahr 1943 entscheiden die Ärzte:
Dorothea soll sterben.
Dorothea Kaliwe kommt
in die Tötungs-Anstalt Pfaffenrode.
Dorotheas Tochter Ursula und ihr Schwiegersohn Theo Zobel fahren auch nach Pfafferode.
Theo Zobel ist Förster.
Darum hat er eine Pistole.
Theo droht den Ärzten mit der Pistole:
»Ich gehe jetzt mit meiner Schwiegermutter durch diese Tür, und wenn Sie zum Telefon greifen, verlassen wir diesen Raum nicht lebend.«
Interview mit Ursula Becker, 11.1.2018.
ArEGL.
Ich nehme Dorothea Kaliwe jetzt mit.
Ich habe eine Pistole.
Wenn Sie uns nicht gehen lassen,
erschieße ich uns alle.
So wurde Dorothea Kaliwe ihrer Familie übergeben. Sie überlebte und starb 1967 in der Wohnung ihrer Tochter, bei der sie nach ihrer Rettung lebte.
Die Nazis lassen Dorothea Kaliwe frei.
Ursula und Theo Zobel nehmen
Dorothea Kaliwe mit.
Sie fahren nach Hause.
Dorothea Kaliwe überlebt.
Sie ist gerettet.
Dorothea Kaliwe lebt bis zu ihrem Tod
bei ihrer Tochter Ursula.
Dorothea stirbt im Jahr 1967.

Foto von Ursula und Theo Zobel, vor 1944.
ArEGL 64.
Auf dem Foto trägt Dorothea Kaliwe (links) ihre neugeborene Enkeltochter Ursula Zobel. Rechts im Bild ist Dorotheas Tochter Ursula Zobel zu sehen. Das Foto entstand im Dezember 1934 in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.
Auf dem ersten Foto ist Dorothea Kaliwe.
Sie hat ihre Enkelin auf dem Arm.
Die Enkelin ist ein Baby.
Neben Dorothea steht ihre Tochter
Ursula Zobel.
Das Foto ist aus dem Jahr 1934.
Auf dem zweiten Foto sind
Ursula und Theo Zobel.
Sie stehen im Garten vor ihrem Haus.
Theo Zobel hat seine Förster-Uniform an.
Das Foto ist aus dem Jahr 1944.
Ärzt*innen und Eltern verhielten sich selten widerständig. Der Arzt Willi Baumert nutzte nur ein einziges Mal seinen Handlungsspielraum. Nur wenige Eltern versuchten zumindest, und noch weniger von ihnen gelang es tatsächlich, ihre Kinder zu retten. Kinder, die die »Kinderfachabteilung« überlebt hatten, kehrten nur selten in ihre Familien zurück. Oft blieben sie noch viele Jahrzehnte in der Anstaltspflege.
Willi Baumert ist Arzt in der Anstalt in Lüneburg.
Er entscheidet nur einmal:
Nein, ich töte dieses Kind nicht.
Nur wenige Eltern sagen:
Nein, mein Kind bleibt zu Hause.
Ich gebe mein Kind nicht
in die Kinder-Fachabteilung.
Ich will mein Kind zurück.
Und nur ganz wenige Eltern bekommen
ihr Kind zurück
Viele Eltern schaffen es nicht
ihr Kind zu retten.
Und viele Eltern versuchen gar nicht
ihr Kind zu retten.
Aber es gibt Überlebende
aus der Kinder-Fachabteilung.
Diese Kinder werden nicht ermordet.
Sie bleiben in der Kinder-Fachabteilung.
Sie werden erwachsen.
Aber dann dürfen sie immer noch nicht
nach Hause.
Sie müssen in der Anstalt bleiben.
Einige Kinder müssen für viele Jahre
in ein anderes Heim.
Einige Kinder bleiben für immer
in einem Heim oder in einer Anstalt.

Auszug aus der Krankengeschichte von Käte.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 02912.
Die nach Eben-Ezer verlegten Kinder mussten im schulfähigen Alter sein. Jüngere und ältere Kinder hatten keine Chance, auf diese Weise zu entkommen – mit einer Ausnahme: Erika (1940 geboren) wurde nach Eben-Ezer verlegt, obwohl sie erst vier Jahre alt war. Willi Baumert entschied, dass sie nicht von ihrer älteren Schwester Käte (geboren 1938) getrennt werden sollte. So überlebten beide Schwestern die »Kinderfachabteilung« Lüneburg.
Käte und Erika sind Schwestern.
In der Nazi-Zeit sind sie
in der Kinder-Fachabteilung in Lüneburg.
Dann kommen sie beide zur Hilfsschule
nach Eben-Ezer.
Das rettet die beiden Schwestern.
Sie werden nicht ermordet.
Die Kinder müssen 6 Jahre alt sein,
damit sie in die Hilfsschule nach Eben-Ezer können.
Erika ist erst 4 Jahre alt.
Aber sie kommt trotzdem in die Hilfsschule.
Denn Willi Baumert will:
Die Schwestern sollen zusammen bleiben.
Das rettet Erika das Leben.
Frieda Neumann konnte nicht gerettet werden. Obwohl ihr Vater alles versuchte, um sie in Bethel unterzubringen, wurde sie von Willi Baumert ermordet.
Frieda Neumann ist
in der Kinder-Fachabteilung in Lüneburg.
Ihr Vater versucht sie zu retten.
Aber er schafft es nicht.
Frieda wird ermordet.
Das ist ein Foto von Frieda Neumann.
Sie sitzt auf dem Schoß
von ihrer großen Schwester.
Das Foto ist aus dem Jahr 1931.

Frieda Neumann auf dem Schoß ihrer älteren Halbschwester Hilda Janssen, vermutlich an Hildas 17. Geburtstag am 4.5.1931.
Privatbesitz Familie Alpha.

Urlaubsantrag von Frieda Wernitz vom 2.12.1942.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/064 Nr. 2566.
Manche Eltern nahmen sogar die Sterilisation ihres Kindes in Kauf, damit es aus der »Kinderfachabteilung« entlassen werden konnte. Das taten auch die Eltern der Lüneburgerin Ingeborg Wernitz.
Ingeborg Wernitz ist in der Nazi-Zeit
in der Kinder-Fachabteilung in Lüneburg.
Aber ihre Eltern wollen sie wieder
nach Hause holen.
Die Ärzte sagen:
Ingeborg darf nur nach Hause,
wenn sie unfruchtbar ist.
Sie soll keine Kinder bekommen.
Die Eltern sagen:
Ja, Ingeborg soll unfruchtbar gemacht werden.
Denn das rettet Ingeborg das Leben.
»Auf Vorladung erschien am 26.9.1942 auf dem Gesundheitsfürsorgeamt der Stadt Lüneburg Frau Wernitz […] und bat um Entlassung ihrer Tochter Ingeborg Wernitz aus der Anstalt. Ihr Mann und sie wären nicht mit der Unterbringung einverstanden gewesen und würden auch nie ihre Einwilligung dazu geben. Ihre Tochter könne billiger zu Hause sein, in der Anstalt lerne sie doch nichts zu. Sie würde auch gut auf Ingeborg aufpassen. Das Gesundheitsfürsorgeamt Lüneburg übersendet am 3.10.42 das Schreiben mit der Bitte um Mitteilung, ob eine Entlassung der I. W. infrage kommen kann, wenn ihre Unfruchtbarmachung vorgenommen würde.«
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2012/064 Nr. 2566.
Das ist ein Teil aus einem Brief
vom Gesundheitsamt Lüneburg.
In dem Brief steht:
Die Eltern von Ingeborg Wernitz wollen
ihr Kind nach Hause holen.
Es kostet weniger Geld,
wenn Ingeborg zu Hause lebt.
Und Ingeborg kann zu Hause mehr lernen.
Das Gesundheits-Amt hat die Idee:
Ingeborg wird unfruchtbar gemacht.
Dann kann sie nach Hause.
Ingeborg Wernitz wurde am 21. Januar 1943 im Alter von 14 Jahren sterilisiert und danach, am 26. Februar 1943, aus der »Kinderfachabteilung« entlassen.
Im Januar 1943 wird Ingeborg Wernitz unfruchtbar gemacht.
Sie ist erst 14 Jahre alt.
Im Februar 1943 darf sie nach Hause.