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ZWANGSSTERILISATION

Es ist ein schwarz-weißes Gruppenfoto in einem Passepartout. Vier Familienmitglieder sitzen auf Stühlen in der ersten Reihe. Drei Familienmitglieder stehen in zweiter Reihe dahinter. Sie haben sich vor der Fassade des Fachwerkhauses des Hofes aufgebaut. Alle tragen festliche Kleidung und blicken ernst in die Kamera.

Familie Saul, um 1925.

Privatbesitz Anne Krause-Rick.

Neben der körperlichen Verletzung ging mit der Sterilisation die Abwertung der Person und eine Abwertung der gesamten Familie einher. Familien, die mit Erkrankungen zu kämpfen hatten, wurden herabgewürdigt und ausgegrenzt. Ihre Scham trägt sich bis in die Gegenwart fort.

Wilhelm Saul (hintere Reihe Mitte) wurde wegen »angeborenen Schwachsinns« gegen seinen Willen sterilisiert. Seine Schwester Marie (vordere Reihe rechts) erkrankte psychisch und starb in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Die Familie erlebte soziale Kälte.

Mehr als die Hälfte der Zwangssterilisationen wurde im Städtischen Krankenhaus Lüneburg durchgeführt. Der einzige vorhandene Operationssaal wurde oft dafür belegt. Der Eingriff wurde gut bezahlt. Auch in der Landesfrauenklinik Celle, im St. Viti-Krankenhaus Uelzen, im Hafenkrankenhaus Hamburg, im Krankenhaus Hamburg St. Georg, im Henriettenstift Hannover und im Städtischen Krankenhaus Hildesheim wurden Zwangssterilisationen durchgeführt.

Der Operationssaal, in dem von 1934 bis 1945 die Zwangssterilisationen in Lüneburg durchgeführt wurden, um 1900.

Kopie ArEGL.

Im Zuge der erbbiologischen Erfassung wurde jedes Familienmitglied auf sein Erbgut hin bewertet. Dies führte dazu, dass eine ganze Generation einer Familie angezeigt, überprüft und im Zweifel unfruchtbar gemacht wurde. So erging es auch der Familie Marienberg und der Familie Münzer aus Lüneburg.

In der Nazi-Zeit untersucht man jede Familie in Deutschland.
Die Ärzte prüfen:
Gibt es Kranke in der Familie?
Man schreibt die Kranken
aus der Familie auf.
Sie kommen auf eine Liste
für die Zwangs-Sterilisation.
Darum gibt es so viele Zwangs-Sterilisationen in der Nazi-Zeit.
In einigen Familien gibt es
mehr als eine Zwangs-Sterilisation.
Zum Beispiel:
Familie Münzer und Familie Marienberg.

Das gedruckte Formular ist mit geschwungener Handschrift und Tinte ausgefüllt. Der Stammbaum von Charlotte Münzer ist akkurat mit der Hand eingezeichnet und einzelne Mitglieder der Familie sind verschiedenfarbig und mit verschiedenen Formen markiert. Jede Farbe und Form steht für eine andere Zuschreibung: etwa Trinker, geschieden, kriminell und so weiter.

Sippentafel von Charlotte Münzer, 7.2.1938.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1223.

Vier Geschwister aus der Familie Münzer wurden zwangssterilisiert: Dora (geb. 1899), Ferdinand (geb. 1906), Albert (geb. 1907) und Frieda Münzer (geb. 1911). Der Amtsarzt erfand sogar neue Kategorien, um ihre Sterilisation zu begründen. In Wahrheit wurde die Familie wegen eines Romno-Hintergrundes verfolgt. Auch ihre Lebensweise entsprach nicht den damaligen engen Vorstellungen. Alberts Sohn Horst Münzer wurde zudem Opfer der »Kinder-Euthanasie«.

Frieda Gras, geb. Münzer, war die Vorletzte der Münzer-Geschwister, die zwangssterilisiert wurde. Neun Tage später wurde ihr Bruder Ferdinand unfruchtbar gemacht.

Es sind zwei schwarz-weiße Fotos. Eines von vorne und eins von der linken Seite. Charlotte Münzer trägt ein dunkles Oberteil mit Fellkragen. Ihre Haare sind Kinn lang und auf einer Seite nach hinten gesteckt. Sie blickt mit geschlossenem Mund in die Kamera.

Amtsärztliches Gutachten über Frieda Münzer, 20.12.1937.

NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1223.

Es ist ein schwarz-weißes Foto. Erich und Thea blicken lächelnd in die Kamera und neigen die Köpfe zueinander. Erich trägt Uniform und die Haare zurückgekämmt. Thea trägt ein dunkles Oberteil mit heller Schleife am Hals. Ihre Haare sind gewellt und nach hinten gesteckt. Sie hält einen üppigen Blumenstrauß vor sich.

Hochzeitsfoto von Erich und Thea Harenburg (geb. Marienberg), 28.2.1941.

Privatbesitz Uwe Marienberg.

Die Sterilisation wurde auch eingesetzt, um Andersdenkende zu entrechten. Die Brüder Georg (geb. 1910) und Karl Marienberg (geb. 1913) wurden 1938 sterilisiert. Hauptgrund war ihre politische Haltung. Als Kommunisten galten sie als »sozial schwachsinnig«. Ihre Halbschwester Emmi Nielson (geb. 1921) wurde 1943 Opfer der Zwangssterilisation, genauso wie ihre Cousine Thea Harenburg (geb. 1921), geborene Marienberg.

Das Papier ist leicht vergilbt. Der Brief ist mit der Schreibmaschine geschrieben. Er ist handschriftlich unterzeichnet. Einige Begriffe und Ausdrücke sind mit der Hand unterstrichen worden.

Brief von Margarete Tost an den Landrat in Soltau vom 29.11.1935.

NLA Hannover Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/005 Nr. 15/2.

Zwei Frauen überlebten die Sterilisation nicht: Henny Tost (geb. 1900) aus Schneverdingen und Emma Timme (geb. 1901) aus Wohlde-Salzmoor. Henny Tost starb direkt nach dem Eingriff, weil der Arzt während der Operation eine Zyste entfernen wollte. Als Entschädigung forderte die Mutter 50 Reichsmark monatlich für die verlorengegangene Arbeitskraft ihrer Tochter.

Emma Timme starb wenige Tage nach dem Eingriff mitten in der Nacht. Da sich die Ärzte nicht erklären konnten, woran sie gestorben war, obduzierten sie die Leiche.

Der Brief ist leicht vergilbt. Er ist mit der Schreibmaschine verfasst. Das Papier ist kleiner als eine halbe Seite.

NLA Hannover Hann. 156 Celle Acc. 95/79 Nr. 6.

Der Behandlungsbericht wurde in ihre Krankenakte eingetragen. Er wurde mit der Schreibmaschine in die Tabelle eingetragen. Die folgenden Einträge sind wieder handschriftlich vorgenommen worden. Der Bericht der Operation umfasst etwa eine halbe Seite.

Behandlungsbericht vom 6.1.1936.

NLA Hannover Hann. 156 Celle Acc. 95/79 Nr. 2.

Bei den Zwangsabtreibungen wurden Schwangerschaften zwischen dem zweiten und siebten Schwangerschaftsmonat abgebrochen. Die Föten waren 17 bis 38 cm groß und bis zu 930 g schwer. Es kam auch vor, dass Frauen trotz Zwangssterilisation schwanger wurden. In diesen Fällen wurde der Eingriff (Zwangsabtreibung) wiederholt. Es sind nur zwei Fälle bekannt, bei denen das trotz Sterilisation erwartete Kind ausgetragen werden und überleben durfte.

Emma Schulze (geb. 1909) aus Schmölau war 26 Jahre alt, als ihre ungeborene Tochter infolge ihrer Sterilisation zwangsabgetrieben wurde.

Im Mai 1938 beschloss das Erbgesundheitsgericht Lüneburg Paul Hausens Unfruchtbarmachung. Auf Grundlage des »Gesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher« wurde er kastriert. Seine Geschlechtsorgane wurden entfernt. Es folgte eine Anstaltsaufnahme als »Sittlichkeitsverbrecher«. Am 23. April 1941 wurde Paul Hausen im Zuge der »Aktion T4« in die Zwischenanstalt Herborn und von dort am 21. Mai 1941 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt.

Es ist ein schwarz-weißes Porträtfoto. Paul Hausen guckt mit geschlossenem Mund ernst in die Kamera. Er trägt ein dunkles hochgeschlossenes Hemd mit hellen Knöpfen. Sein Haar ist seitlich rasiert und oben etwas länger.

Paul Hausen auf seinem Krankenblatt, 1938.

NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 07888.

Es ist ein schwarz-weißes Bild. Auguste Schmid sitzt mit verschränkten Beinen auf einem Stuhl und hält einen Blumenstrauß.  Sie trägt ein dunkles Kleid mit großem Ausschnitt. Sie trägt eine lange Halskette mit großem, ovalem Anhänger. Sie blickt mit leichtem Lächeln in die Kamera.

Auguste Elise Schmid, um 1925.

Privatsammlung Kirsten Muster.

Auguste Elise Schmid aus Bülkau war Mutter einer vier- und einer zweijährigen Tochter, als sie 1938 zwangssterilisiert wurde. Sie entkam der »Aktion T4«, wurde jedoch am 8. September 1943 in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. Diese Verlegung überlebte sie nicht. Da der Vater der Mädchen, Josef Unger, bereits verheiratet war, blieb die Verbindung inoffiziell. Die Mädchen wuchsen bei Augustes Freundin Martha Niehaus auf.

Kurt Heine ist kein typisches Opfer der Zwangssterilisation. Er wurde Opfer der Kriegsfolgen des Ersten Weltkrieges und seiner eigenen Weltanschauung. In Zeiten ökonomischer und politischer Krisen erlebte er immer wieder berufliche Misserfolge, die möglicherweise zu seiner Erkrankung beitrugen. Schwer erkrankt und ohne Selbstwertgefühl, ließ er sich vermutlich freiwillig unfruchtbar machen.

Es ist ein blauer Papphefter. Mittig auf dem Titel steht in schmuckvoller schwarzer Schrift »Personalien«. In der gleichen Schrift steht unten rechts »Kurt Heine«.

Krankenakte von Kurt Heine.

ArEGL.