NFC zu H-P-02-1
»AKTION T4«
Im Rahmen der »Aktion T4« sollten Erkrankte ermordet werden, die länger als fünf Jahre in einer Anstalt waren, als nicht arbeitsfähig galten und wenig Kontakt zu Angehörigen hatten. Aus Lüneburg wurden 483 Erkrankte verlegt, auch ohne diese Anforderungen zu erfüllen. 479 von ihnen wurden ermordet. Alle wurden mit Kohlenmonoxid erstickt. Der Mord blieb nicht geheim und es gab Widerspruch vom Justizministerium, von Familien und der katholischen Kirche. Im August 1941 stoppten die Nationalsozialisten die »Aktion T4« offiziell.
AKTION T4
Die Nazis ermorden viele Kranke.
Sie haben dafür einen extra Namen.
Sie nennen das: Aktion T4.
T4 ist kurz für: Tiergartenstraße 4.
Das ist eine Adresse in Berlin.
Dort planen die Nazis den Kranken-Mord.
Der Kranken-Mord passiert
in besonderen Anstalten.
Das sind Tötungs-Anstalten.
Dort ermordet man die Kranken
in Gas-Kammern.
Die Kranken ersticken an Gas.
Die Nazis ermorden Kranke,
• die länger als 5 Jahre krank sind.
• die nicht arbeiten können.
• die keine Familie haben.
• um die sich keiner kümmert.
• die jüdisch sind.
• die kriminell sind.
Die katholische Kirche und die Familien sind gegen den Kranken-Mord.
Auch das Ministerium für Recht ist dagegen.
Sie sagen: Der Kranken-Mord ist falsch.
Im August 1941 sagen die Nazis sie beenden die Aktion T4.
Aber sie machen heimlich weiter
mit der Aktion T4.

Alle Erkrankten fuhren mit Zügen vom Lüneburger Bahnhof in die Anstalten der »Aktion T4« ab. Bahnhof Lüneburg, 1939.
StadtALg, BS, Pos-19249.

Abtransport von Patienten der Anstalt Liebenau, August 1940.
Stiftung Liebenau.
Die Verlegungen der 483 Lüneburger Erkrankten in die Tötungsanstalten Brandenburg und Pirna-Sonnenstein sowie in die Zwischenanstalt Herborn fanden mit Personenzügen statt. Nur bei der Verlegung von der Zwischenanstalt Herborn in die Tötungsanstalt Hadamar wurden Reichspostbusse eingesetzt.
483 Kranke aus Lüneburg kommen
in Tötungs-Anstalten
• nach Brandenburg in Brandenburg,
• nach Pirna-Sonnenstein in Sachsen und
• nach Hadamar in Hessen.
Die Tötungs-Anstalten sind weit weg.
Man bringt die Kranken mit dem Zug
dort hin.
Einige Kranke kommen in die Anstalt
nach Hadamar.
Vorher kommen sie in eine Zwischenanstalt in Herborn.
Dort sind sie ein paar Wochen.
Dann bringt man die Kranken
mit roten Bussen nach Hadamar.
Die roten Busse gehören der Post.
Die Post hilft den Nazis dabei,
die Kranken in die Tötungs-Anstalt zu bringen.
Auf dem ersten Foto sieht man den Bahnhof
in Lüneburg im Jahr 1941.
Auf dem zweiten Foto sieht man
einen roten Bus.
Mit diesen Bussen bringt man Kranke
in die Tötungs-Anstalt.
»Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 80000 sind weg, 60000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch eine notwendige Arbeit. Und sie muß jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.«
Tagebucheintrag von Joseph Goebbels vom 22. Februar 1941. Zitiert nach Ralf Georg Reuth (Hg.): Joseph Goebbels Tagebücher 1924 – 1945, hier Bd. 4 1940 – 1942, München 1992.
Joseph Goebbels
ist ein sehr wichtiger Nazi.
Er schreibt in sein Tagebuch:
80.000 Kranke haben wir schon ermordet.
60.000 Kranke müssen wir noch ermorden .
Das ist schwere Arbeit.
150 jüdische Erkrankte aus insgesamt 25 Einrichtungen, unter ihnen Isidor Seelig und Iwan Alexander, wurden im September 1940 aus den Provinzen Hannover und Westfalen in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf überwiesen. Acht jüdische Erkrankte waren schon in Wunstorf untergebracht. Am 27. September 1940 wurden somit insgesamt 158 jüdische Erkrankte von Wunstorf in die Tötungsanstalt Brandenburg verlegt und dort mit Gas ermordet.
Im Jahr 1940 bringen die Nazis
150 jüdische Kranke in die Anstalt nach Wunstorf.
8 Juden sind schon vorher in Wunstorf.
Die 150 jüdischen Kranken kommen aus anderen Anstalten aus Deutschland nach Wunstorf.
Auch 2 jüdische Kranke aus Lüneburg kommen nach Wunstorf:
Isidor Seelig und Iwan Alexander.
Sie müssen nach Wunstorf, weil sie Juden sind.
Die jüdischen Kranken sind
nur ganz kurz in Wunstorf.
Nach wenigen Tagen bringt man alle Juden weg.
Sie kommen in die Tötungs-Anstalt
nach Brandenburg an der Havel.
Die Nazis ermorden die Juden dort mit Gas.
In Brandenburg ermorden die Nazis 158 jüdische Kranke aus der Anstalt Wunsdorf.

Auszug aus dem Namentlichen Verzeichnis der überführten jüdischen Kranken, September 1940.
NLA Hannover Hann. 155 Wunstorf Acc. 38/84 Nr. 10.
»Ich bemerke noch, dass die Unterbringung der Kranken in
Wunstorf in einfachster Form (Strohschütte ohne Strohsäcke) in dem kürzlich vom Militär geräumten, bisher als Reservelazarett benutzten Teil der Anstalt sichergestellt ist.«
Oberpräsident der Provinz Hannover an den Reichsminister des Innern. Zitiert nach: Asmus Finzen: Massenmord ohne Schuldgefühl, Bonn 1996.
Man behandelt die Kranken in Wunstorf schlecht.
Die Kranken haben keine Betten.
Sie schlafen auf dem Fußboden auf Stroh.
Am 7. März 1941 wurden 122 Erkrankte im Rahmen der »Aktion T4« aus Lüneburg in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein verlegt. Sie wurden von Personal der Berliner »T4-Zentrale« begleitet. Sie reisten mit dem Zug. Hierfür mussten sie zu Fuß zum Lüneburger Bahnhof laufen. Dort wurden zwei Waggons an einen Personenzug angehängt. Die Erkrankten wurden direkt nach Pirna (Sachsen) gebracht und mussten nach der Ankunft erneut zu Fuß vom Bahnhof zur Tötungsanstalt laufen.
Am 7. März 1941 bringen die Nazis
122 Kranke aus Lüneburg in eine Tötungs-Anstalt.
Die Tötungs-Anstalt ist in Pirna-Sonnenstein.
Die Kranken sollen dort
mit Gas ermordet werden.
Die Nazis nennen das: Aktion T4.
Die 122 Kranken laufen von der Anstalt
zum Bahnhof.
Dann fahren sie mit dem Zug von Lüneburg nach Pirna-Sonnenstein.
In Pirna-Sonnenstein laufen die Kranken
vom Bahnhof zur Tötungs-Anstalt.
Die ganze Zeit sind Pfleger bei den Kranken.

Vermerk: Betr. Verlegung von Geisteskranken, etwa 1940.
Kopie ArEGL.
Diese Vorgaben mussten bei der Verlegung erfüllt werden.
Die Nazis bringen Kranke aus Anstalten
in Tötungs-Anstalten.
Das heißt: Verlegung.
Die Nazis haben für eine Verlegung feste Regeln.
Zum Beispiel:
• Welche Unterlagen müssen
die Kranken mitbringen?
• Was passiert mit den Sachen
von den Kranken?
• Wie müssen die Kranken ihren Namen an der Kleidung tragen?
Nach Ankunft in der Anstalt Pirna-Sonnenstein wurden die Erkrankten untersucht und in einen Umkleideraum geführt. Sie mussten sich ausziehen. Von dort gelangten sie in die Gaskammer. Hinter der Gaskammer waren zwei Öfen, in denen die Ermordeten eingeäschert wurden. Leichenbrenner kippten die Asche einfach auf den Elbhang hinter der Anstalt.
Die Kranken kommen in der Tötungs-Anstalt Pirna-Sonnenstein an.
Dann sagt man den Kranken:
Zuerst gibt es eine Untersuchung.
Darum gehen die Kranken in eine Umkleide.
Dort ziehen sie sich aus.
Dann bringen die Nazis die Kranken
in eine Gas-Kammer.
In die Gas-Kammer fließt Gas.
Die Kranken atmen das Gas ein und ersticken.
Sie sterben in der Gas-Kammer.
Hinter der Gas-Kammer sind 2 Öfen.
Man verbrennt die toten Körper
von den Kranken in den Öfen.
Es bleibt nur Asche übrig von den Kranken.
Die Nazis kippen die Asche
auf einen Hang hinter der Anstalt.
Unter dem Hang fließt ein Fluss.
Man sieht den Fluss auf dieser Postkarte
aus dem Jahr 1923.

Postkarte, Pirna mit Schloss Sonnenstein (links oben), 1923.
ArEGL 99.

August Golla (rechts) im Hafen von Wesermünde (Bremerhaven), Postkarte vom 1.2.1928.
Privatbesitz Angelika Beltz.
Die Verlegung nach Pirna-Sonnenstein betraf nur männliche Erkrankte. Einer von ihnen war August Golla. Er stammte aus Wesermünde (heute Bremerhaven). August Golla arbeitete als Netzmacher und stand der Kommunistischen Partei nahe. Dies führte immer wieder zu Konflikten mit seinem Vater. Im November 1936 verhielt sich August Golla sonderbar und kam ins Krankenhaus. Von dort wurde er in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt überwiesen.
Man bringt nur Männer nach Pirna-Sonnenstein.
Auch August Golla ist dabei.
Er kommt aus der Stadt Wesermünde.
Heute heißt die Stadt Bremerhaven.
Auf diesem Foto steht August Golla rechts.
August Golla arbeitet in der Fischerei.
Er macht zum Beispiel Fischer-Netze.
August Golla mag die Kommunistische Partei.
Sein Vater mag die Partei nicht.
Darum gibt es oft Streit.
Im November 1936 geht es August Golla
schlecht.
Darum kommt er in ein Krankenhaus.
Das Krankenhaus schickt ihn
in die Anstalt nach Lüneburg.
Carl Riemann war Polizeibeamter in Hamburg. Da er mit einer 15 Jahre jüngeren Jüdin verheiratet war, wurde er bei der Arbeit »gemobbt«. Das machte ihn krank. 1934 trennte sich das Paar. Er wurde in die Anstalt Friedrichsberg (Hamburg) aufgenommen, 1935 nach Hamburg-Langenhorn verlegt und 1936 von dort nach Lüneburg gebracht. Hier blieb er bis zu seiner Verlegung in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Als offizielles Todesdatum wurde der 24. März 1941 angegeben.
Das ist ein Führerschein
von Carl Riemann.
Carl Riemann lebt in Hamburg
und ist Polizist.
Er ist verheiratet.
Seine Frau ist 15 Jahre jünger als Carl und
sie ist Jüdin.
Darum mögen seine Kollegen Carl nicht.
Die Kollegen ärgern Carl.
Das macht ihn krank.
Carl und seine Frau trennen sich.
Carl kommt in eine Anstalt in Hamburg.
Von dort kommt er in die Anstalt
nach Lüneburg.
Im Jahr 1941 bringt man Carl Riemann
in die Tötungs-Anstalt Pirna-Sonnenstein.
Dort wird er ermordet.
In Carl Riemanns Kranken-Akte steht:
Carl stirbt am 24. März 1941.

Foto aus dem Führerschein von Carl Riemann, 1922.
Staatsarchiv Hamburg 352-8/7 Nr. 22076 | Kopie Martin Bähr.

Johannes Müller, um 1916.
Privatbesitz Helga und Ludwig Müller.
Johannes Müller aus Geestemünde (Bremerhaven) war gelernter Kaufmann. Sein Vater war Sattler und stattete Luxusschiffe aus. Als junger Mann hatte Johannes Müller im Ersten Weltkrieg gedient und lebte danach ein unpolitisches, christlich geprägtes, bürgerliches Leben. Er erkrankte in den 1930er-Jahren. Nach seiner Ermordung in Pirna-Sonnenstein bestattete die Familie die Urne mit seiner Asche im Familiengrab, das noch heute existiert.
Das ist ein Foto von Johannes Müller
aus dem Jahr 1916.
Er lebt in Geestemünde.
Heute heißt die Stadt Bremerhaven.
Johannes Müller ist Kaufmann.
Er ist auch Soldat im Ersten Weltkrieg.
Nach dem Krieg lebt Johannes
ein normales Leben.
In der Nazi-Zeit wird Johannes krank.
Er kommt in die Anstalt in Lüneburg.
Von dort bringt man ihn
in die Tötungs-Anstalt Pirna-Sonnenstein.
Dort wird er ermordet.
Sein toter Körper wird verbrannt.
Dabei bleibt Asche übrig.
Die Asche kommt in eine Dose.
Die Dose nennt man: Urne.
Die Familie von Johannes bekommt
die Urne mit seiner Asche.
Die Familie legt die Urne in ein Grab.
Das Grab von Johannes gibt es heute noch.
Am 9., 23. und 30. April 1941 wurden insgesamt 357 Erkrankte der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg im Rahmen der »Aktion T4« in die Zwischenanstalt Herborn verlegt. Diese Verlegungen wurden von Beschäftigten der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg begleitet.
355 Erkrankte wurden am 12., 21. und 28. Mai sowie am 16. Juni 1941 von Herborn in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Dort stiegen die Erkrankten in einer Garage aus den Bussen aus. Sie wurden noch einmal medizinisch untersucht, in die im Keller gelegene Gaskammer geführt und ermordet. Nur zwei Lüneburger Erkrankte überlebten, weil sie bei der Untersuchung in der Garage als ausreichend arbeitsfähig bewertet wurden.
3-mal bringt man Kranke aus Lüneburg
in die Zwischenanstalt Herborn:
• am 9. April 1941.
• am 23. April 1941.
• am 30. April 1941.
357 Kranke aus Lüneburg kommen nach Herborn.
Ihre Pfleger sind mit dabei.
In Herborn warten die Kranken mehrere Wochen.
Dann bringt man sie
in die Tötungs-Anstalt Hadamar:
• am 12. Mai 1941.
• am 21. Mai 1941.
• am 28. Mai 1941.
• am 16. Juni 1941.
Die Kranken fahren mit Bussen
in die Tötungs-Anstalt nach Hadamar.
Die Kranken steigen aus den Bussen aus.
Die Nazis untersuchen die Kranken.
Dann bringt man sie in einen Keller.
Dort ist die Gas-Kammer.
In die Gas-Kammer fließt Gas.
Die Kranken atmen das Gas ein und ersticken.
Sie sterben in der Gas-Kammer.
2 Kranke aus Lüneburg überleben in Hadamar.
Sie werden nicht ermordet.
Die Nazis bewertet sie beim Aussteigen
aus dem Bus.
Man glaubt, sie können gut arbeiten.
Darum ermordet man sie nicht.

Tötungsanstalt Hadamar mit rauchendem Schornstein, 1941.
Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, F 12/Nr. 192.

Reisepass von Heinrich Biester, ausgestellt am 13.4.1926.
ArEGL 127.
Ein Studium in den USA war geplant, dafür brauchte Heinrich Biester einen Reisepass. Doch dann erkrankte er und kehrte 1926 nach Hause zurück. Sein Zustand besserte sich nicht, und so kam er 1927 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.
Das ist ein Reisepass von Heinrich Biester
aus dem Jahr 1926.
Heinrich Biester will Musiker werden.
Er studiert in Hannover und Wien.
Und er plant ein Studium in den USA.
Aber dann wird Heinrich Biester krank.
Im Jahr 1926 kommt er aus den USA
zurück nach Hause.
Es geht ihm schlecht.
Darum kommt er im Jahr 1927 in die Anstalt nach Lüneburg.
In der Anstalt arbeitet Heinrichs Onkel.
Der Onkel heißt: Heinrich Mund.
Heinrich Mund ist Pastor in der Anstalt.
Heinrich Mund soll auf seinen Neffen
Heinrich Biester aufpassen.
Heinrich Biester macht bei Gottesdiensten mit.
Er spielt Geige in den Gottesdiensten.
Das soll eine Art Therapie für ihn sein,
weil er ja Musiker werden will.
Aber davon wird er auch nicht wieder gesund.
Er bleibt krank.
Die Nazis bringen Heinrich Biester
in die Tötungs-Anstalt Hadamar.
Dort ermorden sie ihn am 21. Mai 1941.
Der Onkel Heinrich Mund schreibt Tagebuch.
Im Tagebuch stehen viele Infos
über die Anstalt in Lüneburg.
Zum Beispiel:
Wie war das Leben in der Anstalt?
Es gibt auch Infos über den Kranken-Mord.
Aber die Infos sind sehr versteckt.
Das Tagebuch von Heinrich Mund beginnt am 1. Januar 1926 und endet am 1. September 1944. Er beschreibt die Situation in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg zur damaligen Zeit. Versteckt kommen Hinweise auf den Krankenmord vor. Er deutet an, dass zu viele Kinder in der Heil- und Pflegeanstalt sterben, die er als Seelsorger bestatten muss. Auch die Sorge über die Verlegung seines Neffen Heinrich Biester und die Empörung über dessen plötzlichen Tod finden sich im Tagebuch wieder.
Das ist ein Teil aus dem Tagebuch
von Heinrich Mund.
Heinrich Mund schreibt:
Er macht sich Sorgen um Heinrich Biester.
Er denkt:
Die Nazis wollen Heinrich Biester ermorden.
Es sterben auch sehr viele Kinder
in der Anstalt in Lüneburg.
Das merkt Heinrich Mund.
Er zählt die Kinder.
Aber er traut sich nicht die Wahrheit
zu schreiben:
Die Kinder werden ermordet.

Heinrich Mund 1871 – 1945. Tagebuchnotizen aus den Jahren 1926, 1935 und 1937 – 1945, Abschrift und Auszug, S. 116.
ArEGL 161.

Heinrich Mund, vor 1945.
Privatsammlung Familie Mund.
HEINRICH BIESTER (1901 – 1941)

Gruppenfoto der Familie Biester. Heinrich Biester steht in der letzten Reihe, Zweiter von rechts. Links neben ihm steht sein Vater, Hannover, 1925.
Privatbesitz Familie Biester.
Heinrich Biester wuchs in Hannover-List auf. Er wollte Musiker werden und studierte ab 1924 Musik und Gesang in Hannover und Wien. Ein Studium in den USA war geplant. Doch dann erkrankte er und kehrte 1926 nach Hause zurück. Sein Zustand besserte sich nicht, und so kam er 1927 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Dort war sein Onkel Heinrich Mund seit 1907 Anstaltspfarrer. Er sollte auf seinen Neffen aufpassen. Heinrich Biester nahm an den Gottesdiensten in der Anstalt teil und spielte dort Geige. Doch dies schützte ihn nicht. Er wurde am 21. Mai 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Seine Angehörigen hatten sofort den Verdacht, dass ein Verbrechen geschehen war. Die christlich geprägte Familie verzichtete darauf, die Urne mit seiner vermeintlichen Asche überführen und zu Hause bestatten zu lassen.
HEINRICH BIESTER
Heinrich Biester kommt aus Hannover.
Er macht Musik:
Er spielt Geige und er singt.
Er will Musiker werden.
Aber dann wird er krank.
Sein Onkel ist Pastor
in der Anstalt in Lüneburg.
Darum kommt Heinrich in die Anstalt
nach Lüneburg.
Heinrich Biester spielt auch
in der Anstalt Geige.
Zum Beispiel: beim Gottesdienst.
Sein Onkel soll auf ihn aufpassen.
Aber Heinrich Biester kommt trotzdem
in die Tötungs-Anstalt Hadamar.
Dort wird er am 21. Mai 1941 ermordet.
Sein Onkel und die Familie vermuten:
Die Nazis haben Heinrich ermordet.
Die Familie holt die Asche von Heinrich Biester nicht nach Hause.
Das ist ein Foto von Heinrich Biester
aus dem Jahr 1925.
Er steht in der hinteren Reihe.
Er ist der zweite von rechs.
Links neben Heinrich steht sein Vater.

»Trostbrief« der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar über den Tod von Elfa Seipel an Emma Piske vom 10.6.1941.
Privatbesitz Ulla Bucarey.
Die Angehörigen wurden 10 bis 20 Tage nach dem Mord mit einem immer gleich lautenden »Trostbrief« über den »unerwarteten« Tod informiert. Die Ursache war dabei genauso frei erfunden wie der Todestag. Durch das Verschieben des Todes auf ein späteres Datum konnten noch Pflegegelder für die Getöteten abgerechnet werden. Davon wurden die Morde bezahlt.
Die Nazis ermorden viele Kranke bei der Aktion T4.
Danach bekommen die Familien
von den Toten einen Brief.
Der Brief heißt: Trost-Brief.
In den Trost-Briefen steht immer das Gleiche:
Das Familien-Mitglied ist tot.
Der Kranke ist gestorben, weil er krank war.
Aber das ist eine Lüge.
Denn die Nazis haben die Kranken ermordet.
Auch das Todes-Datum stimmt nicht.
Die Kranken sind früher gestorben,
als in dem Brief steht.
Das ist der Grund dafür:
Die Anstalt bekommt Geld für die Kranken.
Ist ein Kranker lange in der Anstalt,
bekommt die Anstalt mehr Geld.
Darum lügt man beim Todes-Datum.
Man tut so, als ob der Kranke später gestorben ist.
So bekommt die Anstalt mehr Geld.
Die Nazis bezahlen mit dem Geld
den Kranken-Mord.
Zum Beispiel: die Fahr-Karten, das Gas.
Heute gibt es noch 3 Trost-Briefe
von Kranken aus der Anstalt in Lüneburg
Die Trost-Briefe sind für die Familien von:
• Elfa Seipel.
• Heinrich Biester.
• Anna Wichern.
Sie sind alle in der Tötungs-Anstalt
in Hadamar ermordet worden.

Elfa (links) Seipel (geb. Piske) mit ihrer Schwester Paula, vor 1914.
Privatbesitz Ulla Bucarey.
Das ist ein Foto von Elfa Seipel
und ihrer Schwester Paula.
Es ist aus dem Jahr 1914.
Das ist ein Foto von Heinrich Biester.
Es ist aus dem Jahr 1927.

Heinrich Biester, um 1927.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/066 Nr. 07588.

Werk von Gustav Sievers. Ohne Titel, undatiert, Bleistift, Wasserfarben auf Durchschlagpapier.
Sammlung Prinzhorn Inv. Nr. 4332d.

Carl Langhein, vor 1905.
Aus: Adolf von Oechelhäuser: Geschichte der Grossh. Badischen Akademie der bildenden Künste, Karlsruhe 1904.

Werbe-Postkarte von Carl Langhein, Wertvolles Strandgut Kupferberg Gold, Lithografie, vor 1927.
ArEGL 187.
Unter den Opfern der »Aktion T4« befanden sich viele Kunstschaffende und Kreative, deren Werke entwertet wurden. Einer von ihnen war Gustav Sievers, dessen Werke heute in der Sammlung Prinzhorn bewahrt werden. Erich Seer war erfolgreicher Grafiker, bevor er erkrankte. Zu Lebzeiten als Künstler und Lithograph geehrt wurde auch Carl Langhein. 1906 wurde ihm der Professorentitel verliehen, 1918 gründete er den Hanseatischen Kunstverlag.
Die Nazis ermorden bei der Aktion T4
viele Künstler.
Diese Künstler haben eine seelische Krankheit.
Die Nazis sagen:
Darum sind die Kunstwerke
von den Künstlern nichts wert.
Einer dieser Künstler ist Gustav Sievers.
Seine Kunstwerke sind heute
in der Sammlung Prinzhorn.
Erich Seer war auch Künstler.
Seine Kunst ist aus Schrift und Malerei.
Er ist sehr erfolgreich.
Aber dann wird er krank.
Er kann nicht mehr arbeiten.
Carl Langhein ist auch Künstler.
Er macht Kunst aus Schrift.
Er ist auch Lehrer für Kunst.
Er bildet andere Künstler aus.
Im Jahr 1906 ist er Professor.
Carl Langhein gründet einen Verlag
für Kunst-Bücher.
Die Collage zeigt eine Frau, die als Harlekin verkleidet auf einem Barhocker sitzt und mithilfe einer Pfeife Seifenblasen pustet. Es gibt drei weitere Bilder gleicher Machart. Der Grafiker und Künstler Erich Seer (1894 – 1941) hat sie aus verschiedenfarbiger Seide und schwarzem Karton geklebt. Ab 1938 war er Patient in Lüneburg und wurde am 7. März 1941 in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet.
Das ist ein Kunstwerk von Erich Seer.
Es ist ein Scheren-Schnitt aus Papier und Stoff.
Erich Seer kommt im Jahr 1938
in die Anstalt nach Lüneburg.
Am 7. März 1941 bringt man ihn
in die Tötungs-Anstalt Pirna-Sonnenstein.
Dort ermordet man ihn.

Collage von Erich Seer, vor 1941.
ArEGL 184.
Im Vergleich zu Männern wurden Frauen häufiger Opfer der Krankenmorde. Ihre Erkrankungen wurden oft durch Schwangerschaft oder Geburt ausgelöst, manchmal waren sie Opfer ehelicher Gewalt. Da sie meist keinen Beruf erlernt hatten, galten sie als »unnütz« und »lebensunwert«.
Die Nazis ermorden viele Menschen
bei der Aktion T4 und beim Kranken-Mord.
Es werden mehr Frauen als Männer ermordet.
Denn viele Frauen haben keinen Beruf.
Sie sind Hausfrauen.
Die Nazis denken:
Kranke Hausfrauen sind zu nichts
zu gebrauchen.
Sie haben kein Recht zu leben.
Darum werden sie oft ausgewählt
für den Kranken-Mord.

Elsa und Heinrich Spartz (mittig), um 1911.
Privatbesitz Maria Kiemen/Matthias Spartz.

Christine Sauerbrey, vor 1914.
Privatbesitz Traute Konietzko.

Agnes Fiebig (spätere Timme), 1929.
Privatbesitz Sabine Röhrs.
Die Hälfte der weiblichen Opfer der »Aktion T4« war verheiratet. Der Ehemann von Elsa Spartz war Chefarzt des Hamburger St. Marien-Krankenhauses. Obwohl er vom Krankenmord wusste, rettete er seine Frau nicht. Christine Sauerbrey blieb ihrem Ehemann treu, als er politisch verfolgt wurde. Als sie erkrankte, ließ er sich von ihr scheiden. Als Agnes Timme nach der Geburt ihres vierten Kindes erkrankte, kümmerte sich ihr Ehemann nicht mehr um die gemeinsamen Kinder. Sie kamen in ein Heim.
Viele Frauen sind verheiratet,
wenn sie bei der Aktion T4 ermordet werden.
Auch Elsa Spartz wird ermordet.
Ihr Mann ist Arzt.
Er weiß von den Morden.
Aber er rettet seine Frau nicht.
Sie wird ermordet.
Christine Sauerbrey ist verheiratet.
Ihr Mann ist Kommunist.
Das sind Gegner von den Nazis.
Er kommt ins Gefängnis und er flüchtet.
Christine bleibt ihrem Mann treu.
Dann wird sie krank.
Ihr Mann verlässt sie und lässt sich scheiden.
Sie wird ermordet.
Agnes Timme bekommt 4 Kinder.
Dann wird sie krank.
Ihr Mann kümmert sich nicht um sie
und die Kinder.
Die Kinder von Agnes Timme kommen in ein Heim.
Sie wird ermordet.
Auch ein wohlständiger, bürgerlicher Hintergrund und eine private Kostenübernahme des Anstaltsaufenthaltes schützten nicht vor der Verlegung in eine Tötungsanstalt. Erkrankte mit bürgerlicher Herkunft waren hin und wieder unwillig, in der Heil- und Pflegeanstalt stundenlang körperlich harte Arbeit auf dem Feld, in der Schäl- oder Waschküche zu leisten. Erkrankte, die sich verweigerten, kamen daher eher für die Verlegung in eine Tötungsanstalt infrage.
Es gibt auch Kranke mit viel Geld.
Und es gibt Kranke, die wichtige Personen kennen.
Zum Beispiel: Politiker.
Aber das hilft ihnen nicht.
Sie kommen auch in Tötungs-Anstalten.
Die Kranken müssen in der Anstalt
in Lüneburg hart arbeiten.
Einige Kranke wollen nicht arbeiten.
Vor allem Kranke mit viel Geld wollen
nicht arbeiten.
Sie wollen auch nicht helfen.
Zum Beispiel:
• in der Küche.
• in der Wäscherei.
• bei der Garten-Arbeit.
Die Ärzte bewerten sie dann als faul.
Die Nazis wollen keine faulen Kranken.
Wer nicht hart arbeitet,
kommt in eine Tötungs-Anstalt.

Irmgard Ruschenbusch, um 1917.
Privatbesitz Michael Schade.
Irmgard Ruschenbusch war Arzttochter und kam aus einer freichristlichen Familie, aus der viele Pastoren und Missionare hervorgegangen waren. Ihre Herkunft bewahrte sie nicht vor der Ermordung.
Das ist ein Foto von Irmgard Ruschenbusch.
Ihre Familie hat viel Geld.
Ihr Vater ist Arzt.
Ihre Familie ist sehr christlich.
Sie glauben an Gott und gehen in die Kirche.
Irmgard Ruschenbusch wird trotzdem ermordet.
Viele der über 70.000 Opfer der »Aktion T4« hatten keine deutsche Staatsbürgerschaft oder waren im Ausland geboren und mit einer/einem Deutschen verheiratet, beispielsweise die Britin Martha Büchel (geb. Caselton).
Viele Opfer der Aktion T4 sind Ausländer.
Sie kommen nicht aus Deutschland.
Sie sind in einem anderen Land geboren.
Oder sie haben
keine deutsche Staats-Bürgerschaft.
Oder sie haben einen Deutschen geheiratet.
So ist es auch bei Martha Büchel.
Sie kommt aus England.

Einbürgerungsurkunde Familie Büchel, 6.8.1920.
Privatsammlung Günter Ahlers.
Martha Büchel war in London (Großbritannien) geboren und aufgewachsen. Sie gehörte zu mindestens 13 Frauen und Männern mit britischer Herkunft, die Opfer der »Aktion T4« wurden. Sie war mit dem berühmten deutschen Kunsttischler Georg Büchel verheiratet, der nach der Internierungszeit und dem verlorenen Ersten Weltkrieg in Großbritannien keine Zukunft mehr hatte. Sie wurde am 12. Mai 1941 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet.
Martha Büchel ist in London geboren.
Sie ist Engländerin.
Sie wird bei der Aktion T4 ermordet.
Es gibt mehr als 13 englische Opfer
bei der Aktion T4.
Martha Büchel hat einen deutschen Ehe-Mann.
Es ist der Tischler Georg Büchel.
Die beiden leben in England.
Dann ist der Erste Weltkrieg.
Georg Büchel kommt in England
in ein Gefangenen-Lager für Deutsche.
Dann ist der Erste Weltkrieg vorbei.
Georg Büchel bekommt keine Arbeit mehr
in England.
Darum gehen Georg und Martha
nach Deutschland.
Martha Büchel wird Deutsche.
Sie stirbt am 12. Mai 1941.