NFC zu H-P-02-2
»DEZENTRALE EUTHANASIE«
Das Ende der »Aktion T4« bedeutete nicht das Ende der Ermordung erwachsener Erkrankter. Sie ging weiter. Insgesamt wurden mehr als 200.000 Erkrankte mit Medikamenten sowie durch Unter- und Mangelversorgung ermordet. Von Lüneburg aus gab es Verlegungen erwachsener Erkrankter in Tötungsanstalten, in denen mit Medikamenten gemordet wurde. Die hohen Sterberaten legen nahe, dass es auch in Lüneburg zu Morden an erwachsenen Erkrankten mit Medikamenten und durch Hungersterben kam.
DEZENTRALE EUTHANASIE
Im Jahr 1941 endet die Aktion T4.
Aber das Töten von Kranken geht weiter.
Es sterben noch über 200 Tausend Kranke.
Sie sterben nicht mit Gas,
aber durch Medikamente.
Oder sie verhungern.
Auch Kranke aus der Anstalt in Lüneburg werden
so ermordet.
Sie sterben in Tötungs-Anstalten und
in der Anstalt in Lüneburg.
Neun Erkrankte, die im Laufe ihres Lebens einmal in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gewesen waren, wurden 1942 und 1943 in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Unter ihnen befanden sich auch die drei geborenen Lüneburger*innen Wilhelmine Dankert, Martin Bey und Heinz Eckhardt. Nur Wilhelmine Dankert überlebte. Die anderen Erkrankten verhungerten oder wurden mit Medikamenten ermordet.
Im Jahr 1941 endet die Aktion T4.
Aber das Töten geht weiter.
Zum Beispiel: in der Tötungs-Anstalt in Hadamar.
In den Jahren 1942 und 1943 kommen
9 Kranke aus Lüneburg nach Hadamar.
3 Kranke sind sogar in Lüneburg geboren:
Wilhelmine Dankert, Martin Bey und
Heinz Eckhardt.
Wilhelmine Dankert überlebt als Einzige
in Hadamar.
Sie wird nicht ermordet.
Die anderen bekommen zu wenig zu essen
und verhungern.
Oder sie werden mit Medikamenten ermordet.

Für Otto Genzers Sterbeurkunde verwendete das Standesamt Hadamar die Rückseite eines Formulars, das ursprünglich dazu diente, die Erkrankten anhand rassenbiologischer Merkmale zu bewerten.
Archiv Gedenkstätte Hadamar. 12 K Nr. 3478.

Wilhelm Leuchtmanns Sterbeurkunde wurde auf die herausgerissene Seite eines Buchhaltungsheftes geschrieben.
Brief an Karl Petersohn vom 2. April 1943.
Archiv Gedenkstätte Hadamar. 12 K Nr. 1760.
Nach dem Ersten Weltkrieg kehrten viele Soldaten mit einer Belastungsstörung nach Hause zurück, auch Wilhelm Leuchtmann (1886 – 1943) aus Bremen. Er wurde 1919 in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen und nach Wunstorf verlegt. Von dort wurde er zusammen mit dem Lüneburger Patienten Otto Genzer (1876 – 1943) Anfang 1943 nach Hadamar gebracht. Otto Genzer wurde fünf Tage nach der Ankunft ermordet, Wilhelm Leuchtmann vier Wochen später.
Nach dem Ersten Weltkrieg kommen
die Soldaten zurück nach Hause.
Viele kommen krank zurück.
Sie haben schlimme Sachen erlebt.
Darum werden sie krank.
Einer von ihnen ist Wilhelm Leuchtmann.
Wilhelm Leuchtmann kommt im Jahr 1919
in die Anstalt nach Lüneburg.
Später kommt er nach Wunstorf.
Das Gleiche passiert mit Otto Genzer.
Er ist auch krank und
kommt von Lüneburg nach Wunstorf.
Zusammen kommen sie von Wunstorf
in die Tötungs-Anstalt Hadamar.
Das ist im Jahr 1943.
Otto Genzer wird nach 5 Tagen getötet.
Wilhelm Leuchtmann wird
nach 4 Wochen getötet.
Die Sterbe-Urkunde von Otto Genzer
gibt es noch.
Darauf steht, wie Otto gestorben ist.
Vieles davon stimmt nicht.
Die Sterbe-Urkunde ist auf die Rückseite
von einem anderen Formular gedruckt.
Die Sterbe-Urkunde von Wilhelm Leuchtmann
gibt es auch noch.
Darauf steht, wie Wilhelm gestorben ist.
Vieles davon stimmt da auch nicht.
Die Sterbe-Urkunde ist
auf einer herausgerissenen Seite geschrieben.
Die Nazis haben sich keine Mühe
mit den Sterbe-Urkunden gegeben.
Denn Kranke waren bei den Nazis nichts wert.
298 Erkrankte aus der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt wurden am 8. September 1943 in die Tötungsanstalt Pfafferode (Mühlhausen) verlegt. Etwa 250 von ihnen wurden ermordet. Das entspricht einer Sterberate von über 80 Prozent. Die Erkrankten wurden in Pfafferode mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Medikamenten und durch Nahrungsentzug ermordet.
Die Anstalt Pfafferode ist
eine Tötungs-Anstalt von der Aktion T4.
Sie ist in Thüringen.
Man bringt 298 Kranke aus Lüneburg
nach Pfafferode.
Dort ermordet man die Kranken.
Das ist am 8. September 1943.
Etwa 250 Kranke aus Lüneburg werden ermordet:
• Sie bekommen kein Essen.
• Sie bekommen zu viele Medikamente.
Das ist eine Postkarte von der Anstalt Pfafferode aus dem Jahr 1912.
Man sieht das Haupthaus mit den Büros.

Postkarte der Landesheilanstalt Pfafferode in Mühlhausen, Verwaltungsgebäude, um 1912.
ArEGL 99.
ANNA GOLLA (1918 – 1944)

Anna Gollas Kennkarte des Deutschen Reiches, 20.3.1942.
Privatbesitz Angelika Beltz.
Anna Golla war die Schwester des »T4«-Opfers August Golla. Sie erkrankte zwei Jahre später als ihr Bruder. Sie wurde in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. Die Mutter versuchte, über Briefe Kontakt zu ihrer Tochter zu halten und war in großer Sorge. Sie hatte bereits ihren Sohn in der »Euthanasie« verloren.
Das ist ein Pass von Anna Golla.
Sie ist die Schwester von August Golla.
August Golla stirbt bei der Aktion T4.
Anna Golla wird 2 Jahre nach ihrem Bruder krank.
Sie kommt auch in die Anstalt Pfafferode.
Die Mutter von Anna macht sich Sorgen.
Sie will nicht noch ein Kind verlieren
durch den Kranken-Mord.

Schreiben von Christine Golla an Anna Golla, 1.9.1944. Anna Golla starb am 11.10.1944 an Mangelversorgung.
Kopie Privatbesitz Angelika Beltz.
»[…] Wir Eltern von Anna Golla möchten bitten um Auskunft über das Befinden unserer Tochter da wir uns auch Sorgen machen in unseren alten Tagen […] da wir noch immer Hoffnung auf sie haben, daß sie wieder gesund wird und weil uns die Hoffnung ist sie zu Gesicht zu bekommen.«
Christine Golla schreibt einen Brief
an ihre Tochter Anna in Pfafferode.
Die Mutter macht sich Sorgen.
Sie hofft:
Anna wird wieder gesund.
Aber das passiert nicht.
Anna bekommt zu wenig Essen.
Sie verhungert.
Sie stirbt im Oktober 1944.
Fünf Tage nach der Anstaltsaufnahme seiner Mutter Katharina, wurde Karl Mählmann am 8. September 1943 nach Pfafferode verlegt. Aus einem durchgestrichenen Eintrag ist zweifelsfrei erkennbar, dass er bereits zwei Jahre zuvor in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein hätte verlegt werden sollen.
Das ist ein Foto von Karl Mählmann.
Er ist in der Anstalt in Lüneburg.
Im Jahr 1941 soll er
in die Aktion T4 kommen.
Aber das passiert nicht.
Er hat Glück.
2 Jahre später hat er kein Glück.
Er kommt in die Tötungs-Anstalt
nach Pfafferode.
Auch Karl Mählmanns Mutter Katharina
ist krank.
Er und seine Mutter sind 5 Tage zusammen in der Anstalt in Lüneburg.
Dann muss Karl Mählmann nach Pfafferode.
Dort wird er ermordet.

Auszug aus dem Krankenblatt von Karl Mählmann.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 01334.
GERTRUD (1916 – 1945), HERBERT (1919 – 1945) UND GERHARD GLASS (1921 – 1944)



Gertrud, Herbert und Gerhard Glass, 1938.
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1560,
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 103/88 Nr. 441,
NLA Hannover Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1630.
Die Geschwister Glass wurden in Wilhelmsburg geboren und hatten wohl von Geburt an geistige Beeinträchtigungen. Die Eltern waren Inspektor Kurt Glass und Melitta, geb. Döge. Die Kinder gingen zur Hilfsschule, erhielten aber wegen fehlender Leistungen keine Zeugnisse. In den 1930er-Jahren zog die Familie von Wilhelmsburg nach Sassendorf (Kreis Lüneburg).
1937 wurden die Geschwister zur Unfruchtbarmachung angezeigt. Herbert und Gerhard wurden am 6. Juli 1938, Gertrud einen Tag später im Lüneburger Krankenhaus zwangssterilisiert. Der Widerstand ihres Vaters Kurt Glass hatte keinen Erfolg. Ein Jahr später erkrankte er und wurde in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Er starb 1939.
Am 13. Mai 1942 wurden auch die drei Geschwister in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen.
Am 8. September 1943 wurden sie in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. Gerhard starb dort am 7. März 1944, Herbert acht Wochen später am 15. Mai 1944 und Gertrud ein Jahr später am 14. Mai 1945. Sie starben alle drei an Nahrungsmangel.
GERTRUD, HERBERT UND GERHARD GLASS
Gertrud, Herbert und Gerhard Glass sind Geschwister.
Sie alle haben eine Behinderung.
Sie gehen auf eine Hilfsschule in Hamburg.
Aber sie schaffen die Schule nicht.
Sie ziehen um in die Nähe von Lüneburg.
Dort meldet jemand die Geschwister beim Amt,
weil sie eine Behinderung haben.
Das Amt sagt: Die Geschwister sollen unfruchtbar gemacht werden.
Denn sie sollen keine Kinder bekommen.
Die Nazis denken:
Menschen mit Behinderung bekommen auch
Kinder mit Behinderung.
Im Jahr 1937 bekommen die 3 Geschwister
eine Zwangs-Sterilisation.
Ihr Vater ist dagegen.
Aber er ist selber krank.
Er kommt in die Anstalt nach Lüneburg.
Er stirbt dort im Jahr 1939.
Im Jahr 1942 kommen die 3 Geschwister
auch in die Anstalt nach Lüneburg.
Im Jahr 1943 kommen sie
in die Tötungs-Anstalt nach Pfafferode.
Dort werden sie ermordet.
Man lässt sie verhungern.
Gerhard stirbt am 7. März 1944.
Herbert stirbt am 15. Mai 1944.
Und Gertrud stirbt am 14. Mai 1945.
Sie sind alle Opfer vom Kranken-Mord.
Das sind Fotos von Gerhard, Herbert und
Gertrud Glass aus dem Jahr 1937.
Die Fotos hat man
gegen ihren Willen gemacht.
Darum sehen sie sehr traurig aus.
Unter den in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegten Erkrankten befanden sich sieben mit ausländischer Herkunft. Sie waren alle Zwangsarbeiter*innen und erst wenige Wochen vor der Verlegung in der Lüneburger Heil- und Pflege-Anstalt aufgenommen worden. Nur zwei überlebten: Sofia Godula (Polen) und Heinrich Efinoff (staatenlos).
Die Nazis bringen viele Kranke aus der Anstalt in Lüneburg in die Tötungs-Anstalt Pfafferode.
7 Kranke sind aus anderen Ländern.
Sie sind Zwangs-Arbeiter und sind erst seit Kurzem in der Anstalt in Lüneburg.
Nur 2 Zwangs-Arbeiter überleben in Pfafferode:
Sofia Godula und Heinrich Efinoff.
ANASTASIA IWANOWA (1890 – 1944)

Auszug aus der Charakteristik von Anastasia Iwanowa.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/085 Nr. 00879.
Anastasia Iwanowa stammte aus Russland und war nach Deutschland verschleppt worden. Sie war Zwangsarbeiterin und wurde in Celle von der Geheimen Staatspolizei festgenommen. Da sie viel weinte und kaum ansprechbar war, wies man sie am 20. August 1943 für »kurze Zeit« in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg ein. Drei Wochen später wurde sie mit einem Sammeltransport in die Tötungsanstalt Pfafferode gebracht. Ohne Diagnose, im Grunde genommen nur, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort und Zwangsarbeiterin war, wurde sie mitverlegt. Sie starb am 9. September 1944 in Pfafferode. Sie ist ein Opfer der »dezentralen Euthanasie«.
ANASTASIA IWANOWA
Anastasia Iwanowa ist Russin.
Sie ist Zwangs-Arbeiterin in Celle.
Die Gestapo nimmt sie fest.
Gestapo ist kurz für: Geheime Staats-Polizei.
Anastasia Iwanowa weint sehr viel.
Darum kommt sie in die Anstalt nach Lüneburg.
Aber sie ist nicht krank.
Sie soll nur kurze Zeit bleiben,
um sich zu beruhigen.
Aber sie hat Pech:
3 Wochen später gibt es eine Verlegung.
Viele Kranke kommen
in die Tötungs-Anstalt Pfafferode.
Auch Anastasia Iwanowa kommt nach Pfafferode.
Aber sie ist keine Kranke.
Sie ist gesund und
soll nur kurze Zeit in der Anstalt bleiben.
Aber die Nazis töten sie trotzdem.
Sie stirbt im Jahr 1944.
EKATHARINA TARANOWA (1926 – 1944)

Auszug aus der Charakteristik von Ekatharina Taranowa.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 02480.
Ekatharina Taranowa war minderjährig, als sie in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen wurde. Sie stammte aus Russland und war nach Deutschland verschleppt worden. Sie war Zwangsarbeiterin in der »Stadt des KdF-Wagens« (Wolfsburg) und dort im »Ostlager« untergebracht. Als sie erkrankte, vermutete der Lagerarzt eine Schizophrenie. Das konnte Max Bräuner nach ihrer Aufnahme am 24. Mai 1943 nicht bestätigen. Ohne Diagnose, im Grunde genommen nur, weil sie Zwangsarbeiterin war, wurde sie in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. Dort starb sie am 13. Januar 1944. Sie ist ein Opfer der »dezentralen Euthanasie«.
EKATHARINA TARANOWA
Ekatharina Taranowa ist Russin.
Und sie ist eine Jugendliche.
Sie ist Zwangs-Arbeiterin in einem Lager.
Sie wird krank.
Der Lager-Arzt sagt:
Ekatharina muss in eine Anstalt.
Sie hat einen Realitäts-Verlust.
Das heißt: Sie weiß nicht mehr, was wahr ist.
Da ist sie 17 Jahre alt.
Max Bräuner ist Chefarzt in der Anstalt
in Lüneburg.
Er glaubt:
Ekatharinas Krankheit ist nicht klar.
Aber sie kommt trotzdem
in die Tötungs-Anstalt Pfafferode.
Denn sie ist eine Ausländerin.
Ekatharina stirbt im Januar 1944.
Sie ist ein Opfer vom Kranken-Mord.
Nachdem im Frühjahr 1941 zunächst 483 und im September 1943 weitere 298 Erkrankte von der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg in Tötungsanstalten verlegt worden waren, wurden die frei gewordenen Betten mit Erkrankten aus Bremen (mindestens 121), aus Hamburg-Langenhorn (etwa 223 Frauen und 253 Männer), aus Hannover-Langenhagen (etwa 92 Frauen und 46 Männer) und aus Wunstorf (etwa 35 Frauen und 118 Männer) belegt. Viele von ihnen wurden in Lüneburg in der »dezentralen Euthanasie« ermordet.
Viele Kranke aus der Anstalt in Lüneburg kommen in Tötungs-Anstalten.
780 Kranke kommen in der Zeit von 1940 bis 1943 in eine Tötungs-Anstalt.
Danach gibt es wieder freie Plätze
in der Anstalt in Lüneburg.
Darum bringt man fast 900 neue Kranke
nach Lüneburg.
Diese Kranken kommen aus:
• Bremen.
• Hamburg-Langenhorn.
• Hannover-Langenhagen.
• Wunstorf.
Viele von ihnen werden ermordet
in der Anstalt in Lüneburg.
Für viele bedeutete die Verlegung ins »Ausweichkrankenhaus« Lüneburg keine Rettung. Mehr als jede/r dritte Erkrankte überlebte den Aufenthalt nicht. 35 Erkrankte wurden am 8. September 1943 mit in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt. 25 von ihnen wurden dort ermordet. Nur 207 der etwa 475 Erkrankten aus Hamburg-Langenhorn kehrten wieder dorthin zurück. Viele dieser Rückkehrer wurden wenig später in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde ermordet.
Die Anstalt in Lüneburg war nicht dazu da,
dass es den Kranken besser geht.
Viele Kranke sterben hier.
Oder sie kommen in Tötungs-Anstalten
und sterben dort.
35 Kranke aus Lüneburg kommen
am 8. September 1943 nach Pfafferode.
Pfafferode ist eine Tötungs-Anstalt.
25 Kranke sterben in Pfafferode.
Sie werden ermordet.
475 Kranke kommen aus der Anstalt
Hamburg-Langenhorn in die Anstalt nach Lüneburg.
Nur 207 von ihnen kommen
nach Hamburg-Langenhorn zurück.
Aber sie waren trotzdem nicht sicher.
Denn danach kommen sie in die Tötungs-Anstalt
Meseritz-Obrawalde.
Fast alle Kranken werden dort ermordet.

Postkarte der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn (Hamburg), 1901.
ArEGL 99.

Postkarte der Heil- und Pflegeanstalt Langenhagen (Hannover), 20.1.1939.
ArEGL 99.

Männerstation der Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf, um 1945.
Privatbesitz Heiner Wittrock.

Auszug aus dem Krankenblatt von Rudolf Fahrenholz.
NLA Hannover Hann. 155 Lüneburg Acc. 2004/085 Nr. 01802.
Rudolf Fahrenholz (1920 – 1944) aus Ottersberg (Verden) wurde mit 16 Jahren das erste Mal in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg aufgenommen. Nach seiner Entlassung wurde er zwangssterilisiert. Als er in die nächste Krise kam, wurde er ein zweites Mal aufgenommen und fünf Monate mit Insulinschockbehandlungen gequält. Am 8. September 1943 wurde er in die Tötungsanstalt Pfafferode verlegt, in der er am 3. Februar 1944 gewaltsam starb.
Rudolf Fahrenholz kommt aus Ottersberg.
Das ist bei Verden.
Er ist 16 Jahre alt.
Da wird er krank.
Er kommt in die Anstalt nach Lüneburg.
Ein Arzt entscheidet:
Rudolf muss unfruchtbar gemacht werden.
Er wird angezeigt.
Beim Erb-Gesundheits-Gericht.
Der Richter entscheidet:
Rudolf wird zwangs-sterilisiert.
Dann kommt Rudolf wieder nach Hause.
Aber er wird wieder krank.
Er kommt eine besondere Therapie.
Eine Zucker-Schock-Therapie.
Dabei bekommt er durch zu viel Zucker einen Anfall.
Und wird er ohnmächtig.
Er verliert das Bewusstsein.
Das soll helfen.
Aber es hilft nicht.
Und es ist gefährlich.
Deshalb gibt es diese Therapie nicht mehr.
Nach 5 Monaten hört die Therapie auf.
Rudolf muss in der Anstalt bleiben.
4 Jahre später wird er verlegt.
In eine Tötungs-Anstalt.
Nach Pfafferode.
Dort stirbt er gewaltsam.
Das ist am 3. Februar 1944.
Da ist er erst 23 Jahre alt.
Das ist ein Auszug aus seiner Kranken-Akte.
Auf dem Foto ist er 16 Jahre alt.
Das ist am Anfang von seiner Zeit in der Anstalt.

Martha Ossmer auf dem Schoß ihres Vaters, um 1928. Es ist das einzige Bild von ihr.
Privatbesitz Christel Banik.
Infolge des alliierten Luftkrieges wurden von Januar 1944 bis März 1945 mindestens 121 Erkrankte aus Bremen in Sammeltransporten nach Lüneburg verlegt. Jede/r Zweite überlebte den Aufenthalt in der Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt nicht. Die 20-jährige Martha Ossmer war eine von ihnen. Aus einem vorübergehenden Aufenthalt in der Bremer Klinik, währenddessen sich ihre Mutter von den Folgen der Bombardierungen erholen sollte, wurde sie gegen den Willen ihrer Eltern nach Lüneburg verlegt und ermordet.
Im Zweiten Weltkrieg gibt es viele Angriffe.
Flugzeuge werfen Bomben auf die Städte.
Viele Städte gehen von den Bomben kaputt.
Und viele Menschen werden verletzt.
Darum wollen viele Menschen raus aus den Städten.
Auch die Kranken müssen raus aus den Städten.
In den Jahren 1944 und 1945 bringt man
viele Kranke aus Bremen weg.
121 Kranke aus Bremen kommen
in die Anstalt nach Lüneburg.
Die Hälfte von den Kranken stirbt.
Viele werden ermordet:
Sie bekommen nichts zu essen.
Oder sie bekommen zu viel von einem Medikament.
Martha Ossmer kommt im Jahr 1944
aus Bremen nach Lüneburg.
Vorher lebt sie bei ihren Eltern.
Ihre Eltern beschützen sie.
Dann fallen Bomben auf Bremen.
Alle müssen Schutz suchen.
Dafür gibt es extra Schutz-Räume in den Kellern. Martha ist 20 Jahre alt und kann nicht laufen.
Darum muss ihre Mutter sie
in den Schutz-Raum tragen.
Nach einiger Zeit schafft ihre Mutter
das nicht mehr.
Sie hat keine Kraft mehr.
Die Mutter braucht eine Pause.
Martha kommt für kurze Zeit
in ein Krankenhaus in Bremen.
Ihre Mutter soll sich in der Zeit erholen.
Danach soll Martha wieder nach Hause kommen.
Aber Martha kommt nicht nach Hause.
Man bringt sie in die Anstalt nach Lüneburg.
Dort wird Martha ermordet.
Das ist ein Foto von Martha Ossmer.
Sie sitzt auf dem Schoß von ihrem Vater.
Das Foto ist etwa aus dem Jahr 1928.
MARTHA OSSMER (1924 – 1945)

Martha Ossmer im Alter von vier Jahren auf dem Schoß ihres Vaters Christian, 1928.

Bertha und Christian Ossmer, Weihnachten 1933.

Marthas Schwestern Käthe und Elfriede Ossmer, Weihnachten 1933.
Privatbesitz Christel Banik.
Martha Ossmer wurde am 22. Mai 1924 in Bremen geboren. Marthas Vater Christian war Arbeiter in einer Holzfabrik. Ihre Mutter Bertha war Hausfrau. Martha hatte zwei jüngere Schwestern, Elfriede und Käthe. Marthas Geburt war sehr schwer, es traten Komplikationen auf. Während der Zangengeburt wurde ihr Schädelknochen stark deformiert. Der Arzt drückte den Schädel dann mit Gewalt in die eigentliche Form zurück und beschädigte dabei wahrscheinlich Marthas Gehirn. In der Folge entstand eine geistige Behinderung. Martha konnte nicht sprechen, lernte erst spät laufen und konnte keine Treppen steigen. Bei vielen alltäglichen Dingen, wie Essen und dem Toilettengang, brauchte sie Hilfe. Ärzte rieten den Eltern immer wieder, Martha in ein Heim zu geben. Aber die Eltern wollten das nicht. Martha besuchte keine Hilfsschule, sondern wurde immer von der Familie betreut. Manchmal war Bertha mit der Pflege ihrer Tochter stark belastet, hin und wieder schämte sie sich wohl auch für Marthas Behinderung. Dennoch blieb Martha bis ins 21. Lebensjahr auch dank der Unterstützung ihrer Schwestern zu Hause. Erst durch die Bombardierungen entstand für die Familie eine Überforderung. Am 18. Juli 1944 wurde Martha in die Nervenklinik in Bremen eingewiesen. Von dort wurde sie am 23. Juli 1944 mit einem Sammeltransport in die Lüneburger Heil- und Pflegeanstalt gebracht.
Der Vater besuchte Martha mindestens zweimal. Die Familie hatte schon früh den Eindruck, dass Martha zu wenig zu essen bekam, was sich über viele Monate fortsetzen sollte. Am 18. April 1945, dem Tag der Befreiung Lüneburgs durch die Briten, starb Martha. Die offizielle Todesursache lautete: »Grundleiden: Idiotie. Nachfolgendes Leiden: Erschöpfung.« Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde sie durch Medikamente getötet. Auch ein Verhungern ist nicht ausgeschlossen.
MARTHA OSSMER
Martha Ossmer kommt aus Bremen.
Ihr Vater ist Arbeiter in einer Holz-Fabrik.
Sie mag ihren Vater sehr.
Sie wartet auf ihn jeden Abend,
wenn er von der Arbeit kommt.
Die Mutter ist Hausfrau.
Sie pflegt Martha bis Martha 20 Jahre alt ist.
Dann ist der Zweite Weltkrieg und
es fallen Bomben auf Bremen.
Alle müssen Schutz suchen.
Dafür gibt es extra Schutz-Räume im Keller.
Martha kann nicht laufen.
Darum muss ihre Mutter sie
in den Schutz-Raum tragen.
Nach einiger Zeit schafft ihre Mutter
das nicht mehr.
Sie hat keine Kraft mehr.
Die Mutter braucht eine Pause.
Martha kommt für kurze Zeit
in ein Krankenhaus in Bremen.
Ihre Mutter soll sich in der Zeit erholen.
Danach soll Martha wieder nach Hause kommen.
Aber Martha kommt nicht nach Hause.
Martha Ossmer kommt
in die Anstalt nach Lüneburg.
Ihr Vater besucht sie dort.
Er merkt:
Martha bekommt zu wenig Essen.
Martha hat Hunger.
Dann ist der Zweite Weltkrieg vorbei.
Am gleichen Tag stirbt Martha.
Sie wird ermordet.
Vielleicht verhungert sie.
Vielleicht bekommt sie zu viel von einem Medikament.
Man weiß es nicht genau.
Auf dem ersten Foto ist Martha ein Kind.
Sie sitzt auf dem Schoß von ihrem Vater.
Es ist das einzige Foto von ihr.
Es ist aus dem Jahr 1928.
Auf dem zweiten Foto sind die Eltern
von Martha Ossmer: Bertha und Christian.
Es ist aus dem Jahr 1933.
Auf dem dritten Foto sind die Schwestern
von Martha Ossmer:
Käthe und Elfriede Ossmer.
Es ist aus dem Jahr 1933.
Justizminister Otto Thierack und Heinrich Himmler vereinbarten im September 1942, Sicherungsverwahrte in Konzentrationslager einzuliefern. Dort sollten sie an den Folgen der harten Arbeit sterben. Auf ihrer Häftlingskleidung wurden sie durch einen grünen Winkel gekennzeichnet. Etwa 2.300 Sicherungsverwahrte wurden in das KZ Neuengamme gebracht. Unter ihnen befanden sich auch fünf Sicherungsverwahrte aus der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg, die am 31. März 1944 dorthin verlegt wurden.
Einige Kranke halten sich nicht an das Gesetz.
Das liegt an ihrer Krankheit.
Zum Beispiel: Eine Person hat eine seelische Krankheit.
Die Person tut anderen Menschen Gewalt an.
Die seelische Krankheit ist der Grund dafür.
Diese Kranken kommen in eine Anstalt
und nicht in ein Gefängnis.
Man nennt diese Kranken: Sicherungs-Verwahrte.
Sie sollen gesund werden,
damit sie keine Verbrechen mehr begehen.
Im Jahr 1942 entscheiden Politiker:
Sicherungs-Verwahrte sollen
in Konzentrations-Lager kommen.
Im Konzentrations-Lager müssen sie schwer arbeiten.
Viele sterben daran oder sie verhungern.
Die Häftlinge müssen ein Zeichen
auf ihre Kleidung nähen.
Das Zeichen ist ein grünes Dreieck.
Ab dem Jahr 1942 kommen
Sicherungs-Verwahrte nach Neuengamme.
Neuengamme ist
ein Konzentrations-Lager in Hamburg.
2 300 Sicherungs-Verwahrte kommen
nach Neuengamme.
Auch 5 Sicherungs-Verwahrte aus Lüneburg kommen nach Neuengamme.
Sie kommen am 31. März 1944 in Neuengamme an.
Nach 33-facher Vorbestrafung kam Willi Demmer 1940 ins Gefängnis Wolfenbüttel. Von dort wurde er auf eigenen Wunsch zur Sicherungsverwahrung in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung ins Konzentrationslager Neuengamme, wurde er im November 1944 im Außenlager Husum-Schwesing zum »Kapo« (Aufseher) befördert. Dafür wurde er später vor ein Militärgericht gestellt.
Das ist ein Foto von Willi Demmer.
Er ist ein Verbrecher.
Er hat 33 Strafen.
Im Jahr 1940 kommt er ins Gefängnis
in Wolfenbüttel.
Von dort kommt er in die Anstalt
nach Lüneburg.
Er ist ein Sicherungs-Verwahrter.
Man bringt ihn von Lüneburg
nach Neuengamme.
Dort ist er Häftling im KZ.
Das ist kurz für: Konzentrations-Lager.
Willi Demmer kommt im Jahr 1944 in ein Außenlager.
Das Außenlager ist in Husum.
Dort ist er Aufseher.
Das heißt Kapo.
Er darf über andere Häftlinge bestimmen.
Er quält die anderen Häftlinge.
Viele von den Häftlingen sterben.
Dafür wird er später angeklagt.
Er muss vor ein Militär-Gericht.

Porträt aus dem Krankenblatt von Willi Demmer, Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, um 1941.
Staatsarchiv Hamburg 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Nr. 30590.
ROBERT SALAU (1911 – 1945)


Brief von Mariechen Salau an Willi Demmer vom 25.3.1944.
NLA Hannover Nds. 330 Lüneburg Acc. 2004/134 Nr. 03095.
Die in das Konzentrationslager Neuengamme verlegten Erkrankten kannten sich gut. Robert Salaus Schwester war mit Willi Demmer befreundet. Dies geht aus einem Brief hervor. Ihr Bruder Robert war nach vielen kleinen Verbrechen, zuletzt wegen sechs Dosen gestohlenen Herings, in die Lüneburger Sicherungsverwahrung gekommen. Die Wege von Salau und Demmer trennen sich in Neuengamme, da Salau ins Außenlager Hannover-Stöcken kam und dort im März 1945 starb.
Robert Salau stammte aus Lüneburg und hatte 22 Geschwister. Er ging nach Wesermünde (Bremerhaven), um dort in der Fischerei zu arbeiten und heuerte auf verschiedenen Schiffen an. Wenn er nicht als Fanghelfer gebraucht wurde, verdiente er Geld in der Fischindustrie. Mal stahl er eine Hose, mal Fisch. Schließlich ordnete ein Gericht seine Sicherungsverwahrung an. 1937 wurde er zwangssterilisiert. Durch die Entlassung ins Konzentrationslager Neuengamme kam er ins Außenlager Hannover-Stöcken. Dort musste er in der Akkumulatoren-Fabrik Zwangsarbeit leisten. Er wurde erschossen und als französischer Kriegsgefangener »Robert Salan« am Maschsee bestattet.
ROBERT SALAU
Robert Salau kommt aus Lüneburg.
Er hat 22 Geschwister.
Er geht an die Nordsee.
Er wird Fischer
und er arbeitet in einer Fisch-Fabrik.
Er klaut immer wieder.
Das Gericht sagt: Robert Salau ist krank.
Darum muss er in eine Anstalt.
Und er muss dort eingesperrt sein
wie in einem Gefängnis.
Im Jahr 1937 bekommt Robert Salau
eine Zwangs-Sterilisation.
Er kann dann keine Kinder mehr bekommen.
In der Anstalt sind noch andere Menschen
wie er.
Sie haben auch kriminelle Sachen gemacht,
weil sie krank sind.
Sie kennen sich alle sehr gut.
Robert Salau und sein Freund Willi Demmer
sind zusammen in der Anstalt in Lüneburg.
Sie kommen zusammen
ins Konzentrations-Lager Neuengamme.
Dann trennt man die beiden.
Robert Salau kommt nach Hannover.
Er macht Zwangs-Arbeit in einer Batterie-Fabrik.
Er wird dort erschossen.
Nach dem Tod von Robert Salau,
liest jemand seinen Namen falsch:
Salan statt Salau.
Alle denken, er ist Franzose.
Darum beerdigt man ihn als Franzosen.
Alle denken:
Er ist ein Kriegs-Gefangener aus Frankreich.
Aber das stimmt nicht.
Robert Salau hat eine Schwester.
Sie ist auch befreundet mit Willi Demmer.
Das ist ein Brief von der Schwester
an Willi Demmer aus dem Jahr 1944.
Es ist ein Liebesbrief.